Woyzeck

Mit Luise Aschenbrenner, Anton Berman, Jannik Hinsch, Birte Leest, Michael Pietsch, Torsten Ranft, Matthias Reichwald, Lukas Rüppel, Ezé Wendtoin | Regie: Jan-Christoph Gockel  | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Amit Epstein | Puppenbau: Michael Pietsch | Live-Musik: Anton Berman | Dramaturgie: Jörg Bochow | Video-Schnitt: Christian Rabending | Fotos: Sebastian Hoppe | Premiere: 19.10.2019



„Die Wunde offen wie ein Bergwerk, aus der die Würmer züngeln.“ Heiner Müller

Kann man erkennen, was und wie ein Mensch ist allein in Anbetracht seines Äußeren? Im 18. Jahrhundert verbreiteten Physiognomik und Phrenologie die Auffassung, dass seelische wie moralische Eigenschaften und geistige Fähigkeiten angeboren, durch den Körper vorgegeben und typisierbar seien. Im 19. Jahrhundert definierten Anthropologen sogenannte Rassentypen, die Konstruktion des Begriffs ‚Rasse‘ nahm ihren Lauf. Die neuen Lehren versprachen, Menschentypen anhand von Gesicht und Schädelform identifizieren und ihr Verhalten vorhersehen zu können.

WOYZECK erzählt als globale Geschichte, als Geschichte, die jenseits unserer Grenzen spielt.  Woyzeck gefangen in neokolonialen Ausbeutungsstrukturen, gefangen im  Menschenlabor, gefangen in der sich immer wiederholenden Geschichte.  „Noch geht er (Woyzeck) in Afrika den Kreuzweg seiner Geschichte…“, schreibt Heiner Müller. Wir sehen Woyzeck im Gebirge der Welt, nein, im Inneren der Welt, wo geschuftet wird für… naja für wen? Die Profiteure sind nicht zu sehen im Camp der Coltanmine. Für wessen Reichtum wird sich hier abgearbeitet? Wahrscheinlich für unseren. Aber wir treten nicht auf. Es treten auf: die Subalternen.

Erzählt wird nicht das triste, deutsche Dramenfragment Büchners, sondern das „Rasiermesser“. Mit Texten von Georg Büchner, Fiston Mwanza Mujila und Heiner Müller. „Und immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann…“

Neue Termine folgen.

 

"Diese fulminante Inszenierung wird zur drastischen Anklage eines von westlichen Kolonialmächten verschuldeten globalen Elends – ein ganz starkes Bild. Begeisterter Applaus für großes Theater, (...)"
Dresdner Morgenpost, 21. Oktober 2019

„Jan-Christoph Gockel serviert „Woyzeck“ in Dresden als postkoloniales Puppenmenetekel. (...) Da wird postkolonialistisch geschürft oder im kongolesischen Nachtclub gefeiert – und so der Rassismus des dritten Jahrtausends aus akuter, harter Innensicht gezeigt.“
Dresdner Neueste Nachrichten, 21. Oktober 2019

„Klug, Woyzeck als Puppe zu zeigen. Der Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch hat dafür auch das richtige Händchen. Sieht man doch eine Figur, die weder schwarz noch weiß ist. Deformiert, fremdgesteuert und willenlos wandelt Woyzeck durch die Zeiten und Zuschreibungen. (...)
So eigen die Lesart dieses Afrika-„Woyzecks“ auch sein mag, die Konsequenz und Bildgewalt ist atemberaubend. (...) Die bitterbösen Szenen erheben eine berechtigte Anklage an die Kolonialmächte. Zusammengeflickt liegt Woyzeck wieder auf dem Krankengestell. Seine Tragödie findet in keiner Welt ein Ende. Begeistert feiert Dresden diesen radikalen und grandiosen Abend.“
Sächsische Zeitung, 21. Oktober 2019

„Bin ich ein Mensch ? (...) Spannend, provokant, aufwühlend und schmerzhaft bis zur Grenze des Erträglichen stellt diese Frage auch die Inszenierung.“
meinwortgarten.com, 31. Oktober 2019

Hintergrund

Die Aufteilung der Welt, Achille Mbembe

Die „Moderne“ ist in Wirklichkeit nur der Name für das europäische Projekt grenzenloser Expansion, das in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde. Eine der wichtigsten politischen Fragen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Expansion der europäischen Kolonialreiche. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem der Imperialismus seine Triumphe feiert. Es ist die Zeit, in der Europa aufgrund der technischen Entwicklung, der militärischen Eroberung, des Handels und der Ausbreitung des Christentums über die übrigen Völker in aller Welt eine despotische Macht ausübt – die Art von Macht, die man jenseits der eigenen Grenzen und über Menschen ausübt, mit denen man nichts gemein zu haben glaubt.

In mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine „Welt der Rassen“ geblieben. Der Rassensignifikant ist immer noch die unumgängliche, wenngleich gelegentlich bestrittene Sprache der Darstellung des Selbst und der Welt, des Verhältnisses zum Anderen, zum Gedächtnis und zur Macht. Die Kritik der Moderne wird unabgeschlossen bleiben, solange wir nicht verstanden haben, dass ihre Entstehung mit dem Erscheinen des Rassenprinzips und der langsamen Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftstechniken zusammenfällt, und zwar heute ebenso wie damals. Zu seiner Reproduktion bedarf das Rassenprinzip einer Reihe von Praktiken, deren unmittelbarer Ausgangspunkt der Körper des Anderen und dessen Anwendungsbereich das Leben in seiner Gesamtheit darstellt. Diese anfangs prosaischen, disparaten, mehr oder weniger systematischen Praktiken werden sodann zur Gewohnheit und nehmen die Form von Institutionen, Gesetzen und Techniken an, deren Spuren man historisch verfolgen und deren Auswirkungen man beschreiben kann. Unter dem Rassenprinzip ist ein ganzes Spektrum von Formen der Unterteilung und Unterscheidung der Menschen zu verstehen, das sich zu Zwecken der Stigmatisierung, des Ausschlusses und der Absonderung einsetzen lässt, mit dem Ziel, eine Gruppe von Menschen zu isolieren, zu eliminieren oder gar physisch zu vernichten.

 

Aus Woyzeck. Das Verdrängte der Aufklärung, Jörg Bochow

In Büchners Geschichte von Woyzeck, dem ersten westlichen Unterprivilegierten und Missachteten, der zum tragischen Held des Dramas wurde, findet sich ein enger Bezug zu den angeblich ‚wissenschaftlichen‘ Grundlagen des Rassismus. Schädelvermessungen und Typologien von Menschengruppen waren nicht nur Bestandteil der kolonialen, sondern auch der kriminaltechnischen Praktiken des 19. Jahrhunderts. Die Annahme, einen Verbrecher bereits an seinem Äußeren erkennen zu können, beeinflusste die Praxis von Polizei und Justiz. Als historisches Dokument sind beispielsweise die Gutachten des Mediziners Dr. Clarus überliefert, der den historischen Woyzeck untersucht hatte. Dieser war 1824 auf dem Leipziger Marktplatz vor einer großen Menschenmenge hingerichtet worden. Sein Fall wurde berühmt, da er wie kein anderer ins Zentrum einer politischen Debatte geriet, die um die Frage menschlicher Zurechnungsfähigkeit kreiste. Die Gutachten des Gerichtsmediziners Dr. Clarus hatten die Frage zu entscheiden, ob Woyzeck, der behauptete, psychisch gestört zu sein, in einer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt war. Clarus sondiert in seinem Gutachten zunächst das Äußere des Angeklagten:  „Der Kopf steht in richtigem Verhältnis zu dem übrigen Körper … Die Haut ist von natürlicher und gleichförmiger Wärme, ohne Spuren von Krätze, Flechten und anderen Ausschlägen, auch bemerkt man bei der Untersuchung derselben keine Krampfadern, Drüsenschwellungen, Narben oder venerische Merkmale … Das Gesicht ist blass, aber nicht eingefallen, die Lippen rot, die Züge ziemlich gefurcht, aber weder ungewöhnlich gespannt, noch erschlafft. Seine Miene hat nichts Tückisches, Lauerndes, Abstoßendes oder Zurückschreckendes und kündigt weder Furcht und Kummer, noch Unwillen und verhaltenen Zorn, überhaupt nichts Leidenschaftliches an …“

Am Ende seiner Körper- und Seelenvermessung schreibt Clarus dem Angeklagten, der am 21. Juni 1821 seine Geliebte Johanna Christiane Woost mit einer abgebrochenen Degenklinge erstochen hatte, die freie Willensentscheidung zur Tat zu. (…)

Ende des 20. Jahrhunderts ist es dann Heiner Müller, der in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1985 unter dem Titel DIE WUNDE WOYZECK den Zusammenhang von ökonomischer Repression und Gewalt in der westlichen Moderne mit der rassistisch begründeten Gewalt des Kolonialismus in Afrika verbindet. Jegliches Gerede vom angeblichen Ende der Unterdrückung zurückweisend, beschreibt Müller Woyzeck auf seinem „Kreuzweg in die Geschichte“ in Afrika, während wir ihn und seine Auferstehung als das Verdrängte unserer Geschichte „mit Furcht und/ oder Hoffnung“ erwarten: „Der Wolf kommt aus dem Süden. Wenn die Sonne im Zenit steht, ist er eins mit unserem Schatten, beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte.“