Merlin oder Das wüste Land

Mit Julia Gräfner, Benedikt Greiner, Fredrik Jan Hofmann, Florian Köhler, Raphael Muff, Michael Pietsch, Evamaria Salcher, Franz Solar |Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Sophie du Vinage | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Matthias Grübel | Dramaturgie: Karla Mäder |  Fotos: Lupi Spuma | Premiere: 24.09.2015 |



„Diese Lebensform von niedriger Intelligenz war mit rudimentären Erkenntnissen über ihr Entstehen und minimalen Einsichten in die Zusammenhänge des Sonnensystems ausgestattet. Sie entwickelten vermutlich eine gewisse Kultur mit primitiven Religions- und Gesellschaftsformen und erreichten wohl zu gewissen Zeiten ein schwaches Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Es ist nicht erwiesen, inwieweit sie das Ende des Planeten voraussahen oder sogar herbeiführten. Die wenigen Spuren ihrer Existenz blieben rätselhaft.“
Tankred Dorst, MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND

Dorsts monumentales Drama MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND, uraufgeführt 1981, verwebt verschiedene mittelalterliche Mythen zu einer großen Erzählung von Anfang und Ende einer Zivilisation. Unser Abend ist der Versuch, Tankred Dorsts Welttheaterentwurf chronologisch zu lesen – als Geschichte der Menschheit vom Anfang bis zu ihrem Ende. Alles beginnt mit der Geburt Merlins: Als Sohn des Teufels und einer frommen Hure – das Böse und Gute streiten sich in ihm – begleitet er als Ratgeber und Zauberer die Menschheit, vor allem Parzival und König Artus. Es ist sein Ziel, die Menschen auf den richtigen Weg zu lenken: Doch alle Versuche, das „wüste Land“ zu zivilisieren, bringen nur neue Konfusion. Der Abend endet schließlich mit dem Aussterben der Menschen. Und zurück bleibt – ganz friedlich – der Zwergplanet Erde.

In MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer großen Menschheitsgeschichte. Es ist ein Abend über große Utopien, ihr Scheitern im Privaten und über das Zugrundegehen von Demokratien. Weil der Mensch der Mensch ist. Dorsts letzter Satz im Stück: „Die wenigen Spuren ihrer Existenz bleiben rätselhaft.“

„Der vierstündige Abend dreht sich wie eine Schraube durch die Geschichte, Stilrichtungen wie Gewebeschichten passierend. Wenn sich an einer Stelle die Drehbühne in Bewegung setzt und verschiedene Szenen samt schweigenden oder monologisierenden Figuren vorbeifahren, ist das ein Bild, das stellvertretend für das ganze Stück stehen kann: ein düsteres, aber farbenfroges, tiefgründiges Merlin-Kaleidoskop.
Der Standard, Colette M. Schmidt, 26./27.09.2015

„Dreieinhalb Stunden voller Spielfreude, Aktualität, originellen Einfällen und prallem Theater.“
Kronen Zeitung Kultur, Michael Reichart, 26.11.2015

„Grandioses Panoptikum“
Kleine Zeitung, Ute Baumhackl, 24.11.2015

Hintergrund

Aus „The Waste Land“, T.S. Eliot

What are the roots that clutch, what branches grow
Out of this stony rubbish? Son of man,
You cannot say, or guess, for you know only
A heap of broken images, where the sun beats,
And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief,
And the dry stone no sound of water. Only
There is shadow under this red rock,
(Come in under the shadow of this red rock),
And I will show you something different from either
Your shadow at morning striding behind you
Or your shadow at evening rising to meet you;
I will show you fear in a handful of dust.

„Der Engel der Geschichte“, Walter Benjamin

Der Engel der Geschichte hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

„Eine Wundertüte voll Mythos“, Karla Mäder

Unser Planet ist viereinhalb Milliarden alt. Und nachdem die ersten paar Millionen Jahre offenbar nicht allzu viel los war, geschah sehr viel in den letzten 10.000 Jahren. Und richtig viel passierte in den letzten paar Jahrhunderten. Doch trotz aller gemachten Erfahrungen, aller technischen und technologischen Entwicklungen, allem wissenschaftlichen Fortschritt, aller philosophischer Bemühungen und politischen Anstrengungen zum Trotz: Auch heute, am Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus, sind wir nach wie vor nicht in der Lage, das Zusammenleben aller Menschen friedlich und solidarisch zu organisieren und unsere Lebensgrundlage, die Erde, so zu behandeln, dass sie auch nachfolgenden Generationen als sichere, gesunde Heimat dient. (…)

Nur eine Generation lang ist der Zauberer Merlin in dieser Welt zu Gast. Er kommt aus den undurchdringlichen Wäldern der keltischen Vorzeit, aus denen er von seinem Teufel-Vater abgesandt wird, um die Menschen zum Bösen zu verführen. Tatkräftig wehrt er sich gegen den väterlichen Auftrag und muss am Ende doch einsehen, dass dieser Recht hat: „Das Böse, das ist ihre eigentliche Natur.“ Frustriert und ernüchtert zieht sich Merlin nach einem Menschenleben wieder in den Wald zurück, weil all seine Versuche, mit Verwandlungskunst und Zauberei die Menschen auf den rechten Weg zu bringen, vergeblich waren. Der Mensch ist und bleibt, was er ist: ein Affektbündel, dessen Triebe mühsam von einer dünnen Schicht Zivilisation bedeckt sind.

Beide großen Projekte, mit denen Merlin die Menschen voranbringen wollte, scheitern auf ganzer Linie: Die Demokratie – symbolisiert durch den runden Tisch am Artushof – wurde geschwächt durch eine fatale ménage a trois zwischen König Artus, dessen Frau Ginevra und dessen bestem Freund Sir Lancelot und löst sich am Ende in einem Generationenkonflikt auf, der in einer Kriegserklärung des Sohnes Mordred an seinen Vater Artus gipfelt; und auch die Religion als sinn- und wertstiftende Erfindung – symbolisiert durch die Suche nach dem Gral –, die zwar vorübergehend zu einer Revitalisierung der in Selbstzufriedenheit erstarrten Tafelritter führt, bringt aber letztendlich doch nur Ernüchterung und noch größere innere Leere mit sich. König Artus, neben Merlin die zentrale Gestalt der Geschichte, ist der illegitime Sohn von König Uther und wird von Merlin als Findelkind aufgezogen. Der unbedarfte und unerkannte junge Artus erhält die Königswürde, weil er als einziger in der Lage ist, das mythische Schwert Excalibur aus einem Stein zu ziehen. Anfänglich wehrt er sich gegen die Last der Königswürde und bleibt lebenslang auf seinen Berater angewiesen, mit dem zusammen er die Elemente seiner Politik erfindet. Bei Dorst ist Merlin aber kein weiser keltischer Druide, sondern ein zeitweise überforderter Spielmacher: Immer wieder bringt er neue Dinge ins Spiel, die ihm zu entgleiten drohen. Jede Aktion zieht eine Reaktion nach sich, und diese fällt nicht immer so aus, wie der Zauberer es geplant hat. Nachdem Merlin sich in seinen Wald zurückgezogen hat, entgleiten die Dinge vollends, und das Stück endet mit dem Bild des Schlachtfeldes, auf dem der Vater (Artus) den Sohn (Mordred) erschlägt. Artus’ Versuch das Instrument, das seinen Herrschaftsanspruch legitimiert – das Schwert Excalibur – loszuwerden, führt zu einem kühnen Sprung in eine unbestimmte Zukunft, in der Wesen höherer Intelligenz die Reste des erloschenen Zwergplaneten Erde nach verwertbaren Hinweisen durchsuchen, aus denen sich ergründen ließe, welche Spezies diesen wohl einst bevölkerte.

Die meisten Menschen glauben, sie würden unsere wichtigsten Mythen kennen, doch bei näherem Hinsehen ist kaum jemand in der Lage, die „Ilias“, das Gilgamesch-Epos, die Nibelungen- oder eben Artussage mit ihren vielen Handlungsfäden, Konflikten und Figuren einigermaßen vollständig wiederzugeben. Und obwohl wir die Mythen lediglich zu kennen meinen und in Wirklichkeit kaum noch kennen, scheinen die Mythen uns umso besser zu kennen. Jahrtausendelang wurden sie wieder und wieder erzählt und bilden so etwas wie eine DANN unseres kulturellen Gedächtnisses, das auf archetypische Situationen zurückgreift. Sie waren und sind der Versuch, das Unerklärliche der Welt – seien es Naturkatastrophen, Gefühle, übermenschliche Heldentaten oder ähnliches – in einen sinnstiftenden Erklärungszusammenhang zu bannen. Hinzu kommt, dass Mythen lebendige Gebilde sind. Ursprünglich eine Variante epischen (mündlichen) Erzählens, passen sich Mythen der Zeit und Umgebung des jeweiligen Erzählers an und haben eine große Varianz, was einzelne Handlungselemente anbelangt. Vielfach existieren Mythen in mehreren, teilweise einander widersprechenden Versionen parallel nebeneinander, weil sie sozusagen Allgemeingut sind, das sich jeder und jede anverwandeln kann. Auf diese Weise bahnen Mythen nicht nur den Weg zurück zum Ursprung unserer Kultur, sondern erinnern immer wieder auch daran, dass es anthropologische Konstanten gibt, die Zeit und Raum überdauern.

Im Mittelalter wurde die Artusepik als eine Art „Bestseller“ im englischen und französischen Sprachraum verbreitet, was ihr dort bis heute eine große Popularität sicherte – man denke an Asterix – und in den letzten Jahrzehnten durch die Fantasy-Literatur eine neue Blüte bescherte. Bei uns ist hingegen die von Wolfram von Eschenbach auf Mittelhochdeutsch verfasste Parzival-Geschichte stärker im kulturellen Gedächtnis verankert. Parzival, dessen Aufnahme in die Tafelrunde eigentlich nur eine Durchgangsstation auf seiner Gralssuche ist, spielt eine interessante Rolle in Dorsts Artuserzählung, da er zum bevorzugten Forschungsobjekt von Merlin wird, der unermüdlich an ihm arbeitet „wie an einer Romanfigur“. Er versucht, diesen Menschen in Situationen zu bringen, die einen Erkenntnisfortschritt bewirken. Neben der Künstlermetaphorik bedient Dorst sich für seinen „Merlin“ aus einem reichen Fundus verschiedener Vorlagen, die er zitiert oder überschreibt. In seiner Originalfassung reichen die Quellen unter anderem von mark Twains „Yankee an König Artus Hof“, zu Rilke- und Höderlin-Zitaten, denen des viktorianischen Dichters Alfred Lord Tennyson oder – im Untertitel – einer Anspielung auf T.S. Eliots episches Gedicht „The Waste Land“ (Das wüste Land), das den amerikanischen Dichter 1922 über Nacht berühmt machte und von den Verunsicherungen des Ersten Weltkrieges inspiriert ist. (…)

„Das Theater ist eine Welt neben der Welt“, sagt Ursula Ehler im Gespräch im September 2015 und Tankred Dorst ergänzt: „Mit elf habe ich mein erstes Theaterstück geschrieben. Ich dachte immer, ich schreibe mir meine Welt.“ (…) Und auch wenn Tankred Dorst und Ursula Ehler vor bald 25 Jahren das Stück vor dem Hintergrund einer ganz anderen Weltlage geschrieben haben, lässt sich diese Menschheitsgeschichte – fast möchte man sagen: bedauerlicherweise – heute wie damals ausdeuten. Denn das Stück hat etwas, das der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im August 2015 in der ZEIT als „wirklichkeitsnahe Fantasie“ beschrieb: „Das Elend der Flüchtlinge, die Folgen des Klimawandels, die Krise des Kapitalismus und der europäischen Idee, das Wiederaufflammen des Nationalismus, die Totalüberwachung durch britische und amerikanische Geheimdienste, die mediale Allgegenwart von Propaganda, das prekäre Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, die drohende Rückkehr des Kalten Krieges, die Fragmentierung von Öffentlichkeit – all dies sind existentielle Themen heutiger und künftiger Gesellschaften, die sich drängend und lärmend, manchmal blutig und bestialisch in das öffentliche Bewusstsein schieben. Sie verlangen eine kollektive Anstrengung des Denkens, eine Renaissance der wirklichkeitsnahen Fantasie.“

Die wirklichkeitsnahe Fantasie von Tankred Dorst konstatiert, dass Utopien zum Scheitern verdammt sind, wenn ihnen Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an neue Gegebenheiten fehlt. Aber sie zeigt auch, dass der Mensch den Drang zur Gestaltung der Welt hat. Bleibt die Hoffnung, dass er bald in der Lage sein wird, seine immense Energie und Intelligenz in den Dienst einer wirklichen Verbesserung und Veränderung zum Wohle aller und zum Wohle unseres Zwergplaneten zu stellen. Oder, um es wie Merlin zu sagen: „Der richtige Weg ist der, auf dem der Mensch sich selber findet.“