Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne & Kostüme: Julia Kurzweg | Puppenbau: Michael Pietsch | Video: Christian Hennecke | Dramaturgie: Kerstin Ortmeier, René Michaelsen | Mit Lilith Häßle, Sébastien Jacobi, Michael Pietsch | Fotos: Werner Meyer | Premiere Theater im Bauturm: 21.04.2017 | Premiere Staatstheater Mainz: 26.08.2017 |
„An das Zeitalter des Menschen wird man sich anhand des Plastiks erinnern. Wenn man die Reste seiner Zivilisationen finden wird, wird man Plastik finden: mit Steinen verwachsen, im Weltraum die Erde umkreisend, im Meer schwimmend und an allen an Stränden der Welt, zerbröckelte Mikroreste.“
DER SIEBTE KONTINENT. REISE ZUR GRÖSSTEN MÜLLDEPONIE DER ERDE
Im Dezember 2016 wird ein Joghurtbecher am Strand gefunden. Er stammt aus dem Jahr 1976 und sieht fast aus wie neu. In dieser Begebenheit spiegelt sich eines der größten Umweltdramen des 20. und 21. Jahrhunderts: Gerade das Material, das einst die größte Zukunftsverheißung darstellte, sorgt nun für eine ökologische Katastrophe von weltweitem Ausmaßen. Plastik – jener Stoff, den jeder braucht, aber niemand mag – will einfach nicht verrotten.
In den Weltmeeren haben sich in den letzten Jahrzehnten mindestens fünf riesige Strudel aus Mikroplastik und Kunststoffmüll gebildet, deren größter zwischen Kalifornien und Japan liegt und mittlerweile die Fläche Indiens übersteigt. Man nennt in daher auch den siebten Kontinent.
Wir haben uns aufgemacht, um den great pacific garbage patch selbst in Augenschein zu nehmen: Im März 2017 reisten wir in die Mitte des Pazifiks und besuchten Kamilo Beach, wenn nicht den schmutzigsten Strand der Welt, dann auf jeden Fall den schmutzigsten Hawaiis.
Aus unseren Erfahrungen, Erlebnissen, aus den Gesprächen mit Betroffenen und intensiven Recherchen in Deutschland und auf Hawaii ist der Theaterabend DER SIEBTE KONTINENT. REISE ZUR GRÖSSTEN MÜLLDEPONIE DER ERDE entstanden. Zu Wort kommen Müllarbeiter, Seefahrer, Umweltschützer, Plastikmogule sowie einsame Idealisten, die der maritimen Müllkippe den Kampf angesagt haben. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist mit kaum einem anderen Material so dämonisch verschwistert wie mit Plastik. Das unzerstörbare Material, das jede Form annehmen kann, galt einst als Verheißung einer besseren Zukunft. Nun erinnert es die Menschen – als schwimmendes schlechtes Gewissen aus Müll – an die Hybris ihrer Wünsche.
"Eine packende Mischung aus Theaterkunst, Puppenspiel und Film-Realität. Das Thema mag noch so eklig sein, die Inszenierung strotzt vor Witz, Humor und Ironie.“Theaterpur.de, Günther Hennecke, 23.04.2017
„Einer der Spieler, Michael Pietsch, hat aus dem Schädel eines Albatros-Kükens, aus Federn und Mageninhalten eine Fetzenpuppe gebaut, die an Marionettenfäden über die kleine Kölner Bühne schwebt. Es ist ein bewegendes Bild.“
Süddeutsche Zeitung, Martin Krumbholz, 23.04.2017
„Ein kluger Text, der sich mitunter zu einer Art Screwball-Comedy aufheizt, gelingt dem Ensemble.“
Kölnische Rundschau, 26.04.2017
Nominiert für den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater
Das Weiß im Auge des Gegenübers. Für ein Theater der Reise
Jan-Christoph Gockel, Laurenz Leky, René Michaelsen
Das Internet suggeriert uns, dass wir permanent mit der ganzen Welt in Kontakt stehen. Neurowissenschaftliche Untersuchungen besagen allerdings, dass man das Weiß im Auge seines Gegenübers sehen muss, damit ein Dialog wirklich Veränderung im Gehirn bewirkt. Damit eine Kommunikation stattfindet, die eine gegenseitige Veränderung ermöglicht. Vor diesem Hintergrund entsteht das Plädoyer für das Theater der Reise: Du musst da hin und mit den Menschen sprechen, die es betrifft. Schauspielerinnen und Schauspieler sind es gewohnt, sich neuen Kontexten auszusetzen, sich einzuarbeiten – in Stücke, in Stoffe, in Figuren. Und die schickt man in die Welt. Die gehen von der Probebühne raus in die Welt. Die sehen das Plastik, die fassen das an und riechen das. Die sprechen mit den Einheimischen, mit den Aktivisten. Die sehen den Kongo im Auge des Gegenübers. Die sehen den Staub, die Gewalt im Kongo. Die kriegen den Durchfall. Die werden zu Zeitzeugen. Die geraten in eine Revolution. Die sehen die Leute, die die Revolution feiern. Wenn Du es in der Zeitung liest, sieht es einfach aus wie Zeter und Mordio und Du siehst gar nicht das Schöne, das Positive daran, an der Veränderung. Das kann man hier gar nicht sehen. Du erhältst es zu Hause präsentiert durch tausend Filter. Erst wenn Du vor Ort bist, siehst Du die ganze Ambivalenz. Du siehst das Positive, du siehst das Negative. Der Eindruck ist unmittelbar, nicht verarbeitet. Unmittelbar und sinnlich. Schauspielerinnen und Schauspieler sind das gewohnt, deren Ausbildung besteht darin, Ideen und Gedanken zu versinnlichen. Sie bringen die Erfahrung aus der Welt zurück ins Theater. Und dort sieht der Zuschauer wiederum das Weiß im Auge des Schauspielers. Der erlebt sinnliche Vorgänge. Der Schauspieler wird zum Medium, zum Boten verkörperlichter Erfahrung. Der Schauspieler ist ein lebendiges Medium, in das sich etwas einschreibt, was kein anderes Medium zeigen kann.
Das Reisetheater erhebt kein Plädoyer für unbedingte Authentizität. Es versteht sich nicht als dokumentarisches Theater im Sinne von: Ich war da, ich weiß es jetzt. Es soll nicht heißen, dass der Schauspieler, der den Durchfall im Kongo erlebt hat, die Rolle besser, echter spielen kann. Natürlich wird jede Erfahrung durch die Transformation auf der Bühne auch fiktionalisiert. Es geht daher nicht darum, Vorgänge zu verifizieren, sondern die Wahrnehmung und das Wissen über die Welt durch die Berichte von Augenzeugen zu erweitern, die dann der Fähigkeit des Publikums zur Kontextualisierung anheimgestellt werden. Dabei bleiben alle kritischen Einwände, die das Theater in den letzten Jahren gegen Mechanismen der Repräsentation auf der Bühne entwickelt hat, erhalten.
Die Bewegung, die zum Verlassen der eingeübten Perspektive führt, ist das Einzige, was uns retten kann. Erst dadurch, dass sich Schauspielerinnen und Schauspieler in der Welt bewegen, mit direkt Betroffenen sprechen und fremde Kontexte sensorisch erfassen, wird eine unmittelbare Erfahrung möglich. Sie fahren in die Welt und wissen noch nicht, was das mit ihnen macht. Sie erleben die Welt noch ohne die Filter, die für jeden Bericht von ihr notwendig werden. Natürlich setzt auch die Inszenierung später wieder die ihr angemessen erscheinenden Filter an. Aber sie kann diese Filter selber bestimmen und über den Darstellungsapparat des Theaters kritisch reflektieren. Sie muss sich nicht auf die Vorselektion von Informationen durch Andere verlassen, sondern vertraut auf die Evidenz des selbst Gesehenen.
Schauspielerinnen und Schauspieler gehen hinaus in die Welt und setzen sich ihr aus, in ihrer ganzen Unberechenbarkeit. Dabei treffen Sie auf die Geschichten und Erfahrungen der Einheimischen und lernen ihre Sicht auf die Erzählungen Europas kennen. Das Stück, das die Studierenden der Theaterwissenschaft in Honolulu im Rahmen des dortigen Previews des Siebten Kontinents zur Aufführung brachten, war ihre Version von Hans Christian Andersens Däumelinchen – gelebter Perspektivwechsel. So ermöglichen Schauspielerinnen und Schauspieler letztlich eine Form sinnlicher Globalisierung und animieren auch das Publikum, seinen gewohnten Kommunikationsraum zu verlassen. Die suggerierte Globalisierung durch das Internet bleibt oft eng und bewirkt eine Lähmung. Man fühlt sich der Welt nicht verbunden, sondern wird nur mit ihr konfrontiert. Aber man muss sich mit ihr verbinden, weil man sonst ohnmächtig wird. Man muss die Festung seiner eingeübten Meinungen verlassen, um draußen mit den Menschen zu sprechen, die nicht von sich aus ins Theater kommen.
Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse, fordert Büchner in Dantons Tod.
Wir ergänzen: Holt sie danach zurück und lasst sie vergessen, dass da ein Theater ist. Der schwarze Raum ist keine Abstellkammer im Seitenflügel unserer Meinungsfestungen. Der schwarze Raum beherbergt die Welt und macht erfahrbar, was in den Nachrichten untergeht.