nominiert für den Nestroy-Theaterpreis 2016 | 9. Wiederaufnahme bei #unplugged im Februar 2023

Imperium

Mit Simon Bauer, Steffen Link, Sebastian Schindegger, Jacob Suske und: Oliver Matthias Kratochwill | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne & Kostüme: Julia Kurzweg| Illustrationen: Giovanna Bolliger | Musik: Jacob Suske | Dramaturgie: Tobias Schuster | Fotos: Matthias Heschl  | Premiere: 25.02.2016 |



„Aufruf! Wir laden hiermit alle reinen Fruchtesser ein, uns ihre Adressen zu senden und sich mit uns zu einer Fruchtesserkolonie großen Stils zu vereinigen. Diese Kolonie soll eine Zuchtanstalt für wahre, reine Menschen, für Christusmenschen sein und der Ausgangspunkt einer fruktivorischen Kolonisation der Tropen werden.“
Christian Kracht, IMPERIUM

August Engelhardt macht sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, um eine Kokosplantage auf der Pazifikinsel Kabakon zu betreiben, in jener Küstenregion vor dem damaligen Deutsch-Neuguinea, die skurriler Weise bis heute Bismarcksee genannt wird. Doch die triste Landwirtschaft braucht ein quasi-religiöses Heilsversprechen! Das Produkt muss zum Heiligtum werden! Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille! Und so entschließt sich Engelhardt bald nach der Ankunft, einen Orden der Kokovoren zu gründen, dessen Mitglieder sich durch den ausschließlichen Verzehr von Kokosnüssen spirituelle Erfüllung erhoffen. Gleichzeitig versprechen der Nudismus und das ausgiebige Sonnenbad den Kokovoren und ihren geschundenen Körpern Befreiung vom autoritären Wilhelminismus der heimatlichen Gefilde. Schnell erfreuen sie sich in ganz Europa großen Interesses und zahlreiche Besucher wollen sich dem Orden anschließen. Doch so schnell die Gemeinschaft wächst, so schnell verschärfen sich auch die Konflikte.

Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Utopisten und Korrumpierten, der Visionäre und Fanatiker, der Kommunarden und Asketen, der Aufklärer und Faschisten. IMPERIUM ist ein Abend über die Erfahrung, dass im menschlichen Naturell Idealismus und Irrsinn nicht weit voneinander entfernt zu liegen scheinen und darüber, dass aufklärerische Visionen immer wieder in brutale Barbarei umschlagen. Eine schrille, politische Komödie über religiösen Wahn und die rassistische Weltsicht einer Gruppe dekadenter Kolonialisten. Die Kokovoren werden gleichzeitig zur Chiffre für den Fetisch eines globalen Welthandels, der seine Produkte zu Ikonen erhebt, zu Götzen, denen es zu huldigen gilt. Ein Abend über das Scheitern eines utopischen Weltentwurfs und das in einer Gegenwart, die neue Utopien gut gebrauchen könnte.

nominiert für den Nestroy-Theaterpreis 2016 in der Kategorie BESTE REGIE

"Das Schauspielhaus hat mit der österreichischen Erstaufführung manches riskiert und alles gewonnen. (...) Chaotisch, dramatisch, melancholisch, sensibel, zum Brüllen komisch und existenziell wechseln die Eindrücke. Dafür gibt es verdient stürmischen Applaus."
Der Standard

"Nackte Haut und Fleischgeruch sorgen für ein gleichermaßen visuelles wie olfaktorisches Erlebnis am Wiener Schauspielhaus. (… ) Vor den Ruinen von Engelhardts Träumen belohnt das Publikum an diesem Abend den Mut der Schauspieler. Jubel gibt es auch für Regisseur Gockel, der Krachts IMPERIUM zugänglich auf die Bühne bringt. "
orf.at

"IMPERIUM ist eine ebenso anarchistische wie unterhaltsame Bühnenadaption von Christian Krachts Vision einer gescheiterten Utopie"
ORF/Zeit im Bild

"Anders als Krachts Roman, der auch die Ironie noch ironisiert, ist Gockels Inszenierung von ganz direkter, kraftvoller Komik. Der seltene Fall einer Romanadaption, die mehr Spaß macht als die Vorlage!"
Nestroypreis-Jurybegründung der Nominerung (Kategorie "Beste Regie") von Wolfgang Kralicek

Hintergrund

„Die äquatoriale Siedlungsgesellschaft als Kokos-Kolonie“, August Engelhardt

Auf, in die Tropen, zur Kokospalme, in die wahre Heimat und zur wahren Mutter des Menschen.

Alle Freunde des natürlichen, sonnigen Lebens, alle Sonnensehnsüchtigen, alle fruchtessenden Lichtluftmenschen der Theorie und Praxis zu gleicher Zeit laden wir herzlich ein, ihre Heimat mit der Kokosinsel Kabakon im Bismarckarchipel zu vertauschen, um hier ein durchaus reines, naturgemäßes Leben zu führen.

Hier in diesem deutsch-tropischen Afrika und Australien soll und muß der deutsche Vegetarierpatriot sein wahres Wirkungsfeld suchen und finden. Es ist die erste Kolonie des von mir ins Leben gerufenen Sonnenordens, einer äquatorialen Siedlungsgesellschaft, der den doppelten Zweck hat:

  1. Seinen Mitgliedern die denkbar besten Lebensbedingungen bietend, große, edle, gute, urgesunde – ganze Menschen aus ihnen zu züchten.
  2. Ein internationales tropisches Kolonialreich des Fruktivorismus zu begründen, indem er um den ganzen Äquator ein engmaschiges Netz von Kolonien reinen, nackten, fruktivorischen Lebens legt.

Der Sonnenorden wird zunächst Kabakon besiedeln, von da aus den Bismarck-Archipel, dann Neuguinea und die Inseln des Stillen Ozeans, schließlich das tropische Zentral- und Südamerika, das tropische Asien und das äquatoriale Afrika.

Ich fordere alle Fruktivoren und Freunde der naturgemäßen Lebensweise auf, mitzuhelfen bei dem Bau des Menschentempels des Fruktivorismus, den es aufzurichten gilt, mitzuwirken bei der Gründung des fruktivorischen Weltreichs. Die Waffe, mit der wir kämpfen und siegen werden, ist die höchste Bedürfnislosigkeit mit ihrem glänzenden, imposanten Gefolge geistiger und körperlicher Tugenden und Kräfte.

Aus „Lebensreform“, Renate Foitzik

Deutschland erlebt 1871 nach dem gegen Frankreich gewonnenen Krieg einen schnellen Aufschwung zur Wirtschaftsmacht. Unter der Regierung von Kaiser Wilhelm I kommt es in den sogenannten „Gründerjahren“ zum Erstarken der Industrie mit positiven und negativen Folgen. Die Technisierung nimmt rasch zu. Als Kaiser Wilhelm I und sein Sohn Friedrich kurz hintereinander im Jahre 1888 sterben, wird der Enkel Wilhelm II zum Kaiser gekrönt. (…)

Der wachsende Reichtum der deutschen Unternehmer und damit einer bestimmten Schicht des Bürgertums ist die Folge des konsequenten Ausbaus der industriellen Möglichkeiten. In zunehmenden Maße zieht die Landbevölkerung in die Städte, da sich dort ein großer Arbeitsplatzmarkt entwickelt. Die Folge ist eine enorme Konzentration von Proletariat in den Städten. Der Wohnraum wird knapp, die Nahrung rar und die Arbeitszeiten von 14 Stunden am Tag bringen wenig Lohn. Das soziale Elend in den oft kinderreichen Arbeiterfamilien nimmt in dramatischer Weise zu.

Schriftsteller dieser Zeit beschreiben dieses Szenario auf naturalistische Weise in ihren Werken, so Gerhart Hauptmann in seinem Schauspiel „Die Weber“. Episch expressionistisch schildert Alfred Döblin das soziale Elend in Berlin in seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“. Er spricht von den ärmsten und konfliktreichen Verhältnissen in der sich zur Kulturmetropole entwickelnden Weltstadt. Glanz und Elend liegen dicht beieinander. Bildende Künstler werden von dieser Atmosphäre inspiriert, etwa Ernst Ludwig Kirchner in Berlin. Döblin und Kirchner sind befreundet.

Mit der Zuwanderung in die Stadt geht eine Gegenbewegung einher. Knapper Raum und schlechte Wohnbedingungen, wenig Nahrungsmittel, Luftverschmutzung durch Fabrikanlagen und anderes mehr verleiten vom Arbeitsplatz unabhängige Menschen dazu, die Stadt zu verlassen. Es sind vor allem Maler, Bildhauer und Poeten, die sich in ländliche und stille Gegenden zurückziehen. Die Hinwendung zur Natur um 1900 nach der Periode der Gründerjahre geschieht ganz im historischen Sinne. Ein Vorbild isr Jean-Jaques Rousseau. Der 1712 in Genf geborene französische Schriftsteller und Naturfreund glaubte, dass der Mensch in der Natur am glücklichsten sei. Seine Überlegungen zum Thema „Zurück zur Natur“ werden von den Künstlern nachempfunden.

Das Phänomen der „Lebensform“ ist keine Einheitsströmung, sondern vereint um 1900 und in den zwei Jahrzehnten danach verschiedene Elemente. Deshalb wird die Lebensreform als eine Summe von heterogenen, lebensverändernden Bewegungen, die als Reaktion auf den bürgerlichen Lebensstil um 1900 und die Industrialisierung entsteht, gesehen. Die einzelnen Bewegungen sind unter keinem Dachverband organisiert. Die frühesten lebensreformerischen Vorstellungen versuchen eine Erneuerung des Menschen von Innen heraus zu bewirken, um ihn von Zivilisationsschäden zu heilen. Nach Wolbert üben diese Vorstellungen noch heute eine Faszination aus. Wie vor 100 Jahren bestehe der Wunsch nach unverfälschter Natur und nach körperlicher Gesundheit und Schönheit, nur orientiere sich die neue Körperästhetik an gestylten Leitbildern. Körper und Seele seien bewegt durch Esoterik, Psychotherapie und Selbsterfahrung. In Form von Bio-Ökoproduktenkämen Heilsversprechen zu uns und Körpermahlzeiten seien Rituale, die den Geist der Gesundheit beschwören.  Zu finden sind diese Einflüsse im oft überzeichneten Körper- und Fitnesskult unserer Zeit, bei den Körneressern und Vegetarieren und bei den Reformhaus-Einkäufern. Auch die Reformpädagogik mit der von Rudolf Steiner gegründeten Waldorfpädagogik lebt heute – etwa 100 Jahre später – in einer großen Anzahl von Schulen fort.

Die Lebensreformer wollen um 1900 zunächst einmal die Erneuerung des Menschen von innen heraus als naturgemäße Lebensweise. Die Gesundheitsreform betrifft die Ernährung, den Umgang mit Alkohol, hygienische und medizinische Probleme. Unter dem Begriff „Gesundheitsreform“ lassen sich nach Krabbe folgende Strömungen zusammenfassen: Vegetarismus, Naturheilkunde, Anti-Alkoholismus, Gymnastik und Sport vor allem in Licht, Luft und Sonne, Kleiderreform und Körperpflege.

Die Lebensumstände sind belastet durch die rasche Entwicklung der sozialen Schwierigkeiten in den Städten, die mit der industriellen Revolution in erschreckender Weise anwachsen. Der Wunsch nach Bewegung in Licht, Luft und Sonne, als Ausgleich zum ungesunden Stadtleben gedacht und zur Gesundung des Körpers geeignet, führt zur Bildung von Gruppierungen, deren Mitglieder in der Natur wohnen oder wandern wollen. Sie experimentieren mit veränderten Lebensstilen und sind bereit, sich selbst zu verändern.

Aus „Ironie? Lachhaft“, Thomas Aasheuer, die ZEIT

Um es kurz zu machen: Sobald man die Geschichte gegen den ironischen Strich bürstet, dreht sich alles um. Dann ist nicht der Verlierer Engelhardt verrückt, sondern verrückt ist die siegreiche Zivilisation, die die Vermessung der Welt vorantreibt und alles unter ihrem „Feuerrad“ begräbt. Der brutale christliche Westen ist das neue Rom, das den deutschen Neuhelden für verrückt erklärt, weil er sich hinter Moses zurückbetet, hinter den Glauben an den einen Gott. Einmal schreibt Engelhardt einen Brief, der erst verloren geht, um dann wieder aufzutauchen – in der Wüste Sinai.

Für die Diagnose, die Engelhardt dem Imperium stellt, gibt es einen plakativen Begriff, und der heißt Nihilismus. Das angloamerikanische Imperium, von dem sich auch Deutschland hat anstecken hat lassen, , ist ein nihilistisches Komplott. Wer sich ihm nicht fügt, den stellt er kalt.

Die Händlermoderne frisst alles auf, am Ende sogar sich selbst, und damit betreibt sie genau den Kannibalismus, den sie den Wilden vorwirft. Tatsächlich wimmelt es in „Imperium“ vor Inversionsfiguren; fast alles wird hier zirkulär und selbstzerstörerisch; Engelhardt, der Welthund, auf den alle einprügeln, bekommt Lepra und verfault am eigenen Leib, er verspeist seine Fingernägel, er schneidet sich einen Daumen ab und isst ihn auf.

Man mag fragen, von welcher Welt der Roman träumt, wenn sein Vexierbild zur Ruhe kommt. Gewiss träumt er nicht von guten Demokraten, denn im „Imperium“, und das ist sein reaktionärer Strang, sind Demokratie und Kapitalismus offenbar zwei Masken desselben Verhängnisses. Wohl aber spricht aus dem Roman eine namenlose, nur zu verständliche Trauer über die entzauberte Welt, und so träumt er – durch seine Figur Engelhardt hindurch – von einer Erde, dich nicht bis in den letzten Winkel kapitalistisch tätowiert und von Geld und Werbung beschlagnahmt ist.
Warum sich Kracht diese andere Welt nicht ausmalt, liegt auf der Hand: Er nimmt den Titel seines Romans ernst, das Imperium ist totalitär, es gibt keinen symbolischen Ort, keine Sprache außerhalb seines Herrschaftsbereichs. Deshalb macht sich Kracht daran, das Imperium durch Wiederholung zu dekonstruieren, er zeigt es als leere Tautologie, als Schlange, die sich selbst auffrisst und dabei immer denselben Film abspielt, den Sieg der Vernunft über einen verrückten Deutschen.

Damit wäre der Roman selbst der Seelenfunken in der Weltfinsternis. Durch die Totaldenunziation der Moderne soll ein Gefühl des Mangels entstehen, der den fehlenden Sinn durch seinen Entzug präsent macht und die Leser spüren lässt, wie entfremdet sie sind. Dieses Gefühl der Leere wäre dann die Lücke, die „Imperium“ in das Imperium schlägt. Wer auch das noch als Ironie verstehen will, der ist für Kracht vermutlich verloren, das Imperium hat ihn aufgefressen mit Haut und mit Haar.