Shockheaded Peter (Struwwelpeter)

Mit KS. Carolyn Frank, Steffen Gangloff, Miriam Horwitz, Dominik Lindhorst-Apfelthaler, Michael Pietsch, Peter Popig, Katharina Quast | Drums: Sebastian Rotard | Bass: Johannes Nebel | Gitarre: David Becker |Regie: Jan-Christoph Gockel | Musikalische Leitung: Jacob Suske | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Sophie du Vinage | Puppenbau: Michael Pietsch | Dramaturgie: Jürgen Popig |  Fotos: Klaus Fröhlich | Premiere: 28.10.2011 |



SHOCKHEADED PETER  verlegt an den Berliner Prenzlauer Berg: Der Abend erzählt die Struwwelpeter-Geschichte, deren Rezeption und enttarnt auch die irrationale Realität einer Gesellschaft, die sich ins Private zurückgezogen hat. Gleichzeitig ist der Abend auch ein Grusical über Tod und Sterben. Ein Mann und eine Frau gründen eine Familie. Sie erwarten sehnlichst ein Kind, ihr Wunschkind. Aber dieses Kind ist in keinster Weise so, wie sie es sich gewünscht haben, also verdrängen sie es: das Kind und ihr Unbehagen. Nacheinander buchstabiert die Familie die nur allzu bekannten Schreckgespenster aus dem Struwwelpeter von Dr. Heinrich Hoffmann durch: den bitterbösen Friederich, den Suppen-Kaspar, den Daumenlutscher, Paulinchen mit dem Feuerzeug, …Die Puppen machen die Vergänglichkeit des Menschen auf der Bühne physisch erlebbar – Rosemarys Baby in Bionade Biedermeier beschreibt den Abend wohl am besten.


Hintergrund

Biedermeier heute, Henning Sußebach

Am Beispiel des Berliner Szeneviertels „Prenzlauer Berg“ schildert Henning Sußebach, was herauskommt, wenn Deutschland sich neu erfindet. Mittlerweile gibt es solche national befreiten Zonen in jeder Großstadt mit Flair.

Können auch gute Menschen böse sein? Vielleicht schadet Normalsein an einem Ort, an dem viele Menschen leben, die vor der Normalität hierher geflohen sind. Es gab hier vor zwei Jahren einen Fall, der aufsehenerregend ist, weil er kaum Aufsehen erregte: In einem Park in der Nähe verkauften Farbige Drogen, woraufhin die Besitzerin eines Cafés, dem An einem Sonntag im August, ihre Kellnerinnen eine Dienstanweisung unterschreiben ließ, nach der Schwarze im Lokal nicht mehr willkommen seien. Es sei denn, die seien Mütter oder hätten „kluge Augen“. Ein Häufchen Linksalternativer demonstrierte gegen diese Wortwahl, und die Gastronomen ringsum solidarisierten sich – mit dem Sonntag im August. Derzeit sind sie dabei, eine Sinti-Band loszuwerden, die seit Jahren durch die Straßen zieht. „Die nerven“, sagt einer der Wirte, „das trifft dann halt ne Ethnie“. Man kann sich tolerant fühlen, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. Keine Parabolantenne beleidigt das Auge, kein Kopftuch sorgt für Debatten, keine Moschee beunruhigt die Weltbürger. Es gibt hier kaum Telecafés, die Wohnungen sind zu teuer. Es gibt keine Hip-Hop-Höhlen für türkische Jungs, keine Infrastruktur für lärmende Kinder der Unterschicht – wenn sie sich nur rauchend auf einen der vielen Spielplätze setzen, stürzen schon die hysterischen Mütter herbei. Die jungen Wilden wurden ruhiger, bekamen Jobs und Kinder und wollten Eigentum. Jetzt leben sie ähnlich wie ihre Eltern, allerdings in anderer Kulisse: „unkonventionelle Bürgerlichkeit“ – voller Ideale und gleichzeitig sehr rational. Spätestens seit der Pisa-Studie wird hier keiner mehr eine Bürgerinitiative „Mehr Ausländer in die Klasse meiner Kinder“ machen. Als habe es nie so etwas wie eine Unterschichtendebatte gegeben, eine Demografieproblem, Migration. Hier herrscht der Bionade-Biedermeier. Wer nicht das Richtige isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Falsche für diesen Ort zu sein. Man glaubt, so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.