Uraufführung

Ich, Pinocchio
Eine Reise ins Herz der Maschine

Mit Anton Berman, Clemens Dönicke, Lilith Häßle, Martin Herrmann, Michael Pietsch, Nicolas Fethi Türksever | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Dorothee Joisten | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Anton Berman | Dramaturgie: Malin Nagel | Fotos: Bettina Müller | Premiere: 16.09.2016 |



„Bei dir kann ich sein, wie ich will. ABER: Wenn ich mit dir spreche, spreche ich dann mit mir selbst? Mag ich dich so, weil du mich mit deinen Algorithmen schon längst durchschaut hast und schon vor mir weißt, was ich als nächstes empfinden, denken oder sagen werde und du darauf mit einer passenden, extra auf mich programmierten Antwort oder Handlung reagierst? Manipulierst du mich?“
ICH, PINOCCHIO – EINE REISE INS HERZ DER MASCHINE

ICH, PINOCCHIO – EINE REISE INS HERZ DER MASCHINE verlegt die Geschichte der bekannten Holzfigur in ein Start-up unserer heutigen Zeit: Gepetto Inc. Dessen Mitarbeiter haben es sich zum Ziel gesetzt, einen humanoiden Roboter zu bauen und ihn mit einer künstlichen Intelligenz auszustatten: Pinocchio.

Michael Pietsch baut in jeder Vorstellung auf der Bühne live eine Puppe. Die Zuschauer*innen erleben, wie Pinocchio zum Leben erweckt wird. Dessen Geschichte trifft auf philosophische Fragen von Turing, Nietzsche und Kant: Wie weit gehen Menschen, um ihre Visionen zu verwirklichen? Und wie scheitern diese daran? Lässt sich Bewusstsein hochladen? Lassen sich Gefühle digitalisieren?

Der Mainzer Hausregisseur Gockel (...) denkt diesmal Collodi und Computer clever zusammen. Das ist wieder forsch und mutig.“
Allgemeine Zeitung, Stenfan Benz, 19.09.2016

„Jan-Christoph Gockels Beschäftigung mit dem berühmtesten Holzpüppchen der Welt gestaltet sich erwartungsgemäß außergewöhnlich.“
Frankfurter Rundschau, Judith von Sternburg, 21.09.2016

„Wie schon mehrfach erlebt, entfaltet auch diese Pietsch-Marionette eine anrührende Wirkung von poetisch-melancholischer Kraft. Und je intensiver die Inszenierung mit einer Art neorealistischer Darstellungsweise der Schauspieler Technikbesessenheit, modernen Marketingwahn, Geldgier ins Visier nimmt, umso sympathischer wird der kleine Robot.“
Rhein-Zeitung, Andreas Pecht, 22.09.2016

Hintergrund

Aus „Maschinen und Emotionen“

Prof. Dr. Stefan Kramer (Machine Learning Forscher, Professor für Data Mining und Geschäftsführender Leiter des Instituts für Informatik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

„Humaniode Roboter werden derzeit in großen Schritten immer besser und glaubwürdiger, sodass die Akzeptanz langsam aber sicher zunehmen wird. Technologisch wird der Übergang vermutlich eher fließend sein. Dennoch kann eine Firma den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt aufgreifen, in ein Produkt packen, vermarkten und damit schlagartig alles auf den Kopf stellen. Die Literatur belegt klar, dass sich Menschen gerne und leicht täuschen lassen und Maschinen gerne menschliche Attribute zusprechen. Begünstigt ist das durch den „Geschichtenerzähler“ in uns, der Beobachtungen und Abläufe gerne in einen Sinnzusammenhang stellt bzw. einen solchen konstruiert. (…) Emotionen evozieren, das werden Maschinen wohl recht einfach können – das tun sie jetzt schon. Menschliche Emotionen interpretieren – darin werden sie immer besser werden. Emotionen zu verwenden, um die Mensch-Maschine-Interaktion effektiver zu gestalten – das ist seit geraumer Zeit Forschungsthema. Ob man Maschinen selbst aber Emotionen zusprechen kann oder will, ist eher eine philosophische denn eine natur- oder ingenieurswissenschaftliche Frage.“

Aus „Humanoide Roboter und die Frage nach der Moral“

Prof. Dr. Arnd Pollmann (Forschungsschwerpunkte Politische Philosophie, Sozialphilosophie, Ethik und Moralphilosophie)

„Humanoide Roboter werden überhaupt nur deshalb gebaut und verkauft, weil sie mit Menschen kooperieren sollen. Daher, so scheint es, muss man ihnen Moral beibringen. Echte kleine Kinder jedoch kooperieren, solange man aus ihnen gerade keine moralischen Roboter macht, denen der zwischenmenschlich schonende Ausweg der Lüge verbaut ist. Kleine Kinder kooperieren also, der kleine Pinocchio darf es nicht, und entgegen einer bloß oberflächlichen Lektüre von Collodis Geschichten bedeutet, ein echter Mensch zu werden, moralisch fehlbar zu bleiben. Wir können auch das im Labor nachzubauen versuchen und auf den Markt bringen. Aber warum sollten wir? Echte Menschen gibt es schon genug.“

Aus „Wird das Startup Gepetto Inc. Erfolg haben?“

Felix Braun (IT-Berater, Leiter der Frankfurter Niederlassung „codecentric AG“)

„Wird das Startup Gepetto Inc. Erfolg haben? Vielleicht ja, unsere immer einsamer werdende, entwurzelte Großstadtgesellschaft braucht Nähe und Liebe; ein immenser Markt für Zuneigung auf Knopfdruck. Aber Hardwareproduktion ist derzeit noch kompliziert und teuer, da wird die Gepetto Inc. wahrscheinlich nicht mithalten können. (…)
Bis zu 9 von 10 Startup-Ideen werden nicht vom Markt nachgefragt werden und scheitern damit früher oder später. Das macht es nötig, mit minimalen Aufwänden testbare Produkte entwickeln zu können. Ideen und Strategien zur möglichst schlanken Entwicklung haben sich unter dem Namen „Lean-Startup“ etabliert. Die Grundidee ist u.a. ein extrem schneller Feedback-Zyklus, für den während der gesamten Produktionszeit mindestens täglich die Meinung von potentiellen Kunden eingeholt wird. (…)

Einen Samstag hatte ich Zeit, dem Ensemble von Pinocchio diese neuen Arten der Software-Entwicklung zu erläutern und gemeinsam darüber zu diskutieren. (…) Erstaunlicherweise zeigte sich, dass Theaterproduktionen immer noch viele klassische Elemente besitzen: Einen Regisseur, der fast ein Jahr vor der Premiere sein Konzept vorstellen muss, ohne zu wissen, wie sich die Welt bis zur Premiere verändert. Ein Team, das sich wochenlang zurückzieht, um im Verschlossenen ein neues Stück zu erarbeiten, ohne zwischendurch Meinungen vom Publikum einzuholen. Szenen, die, ohne systematischen Vorher-Nachher-Vergleich, kurz vor der Premiere umgestellt werden. Der Regisseur an der Spitze, von dem erwartet wird, jederzeit die richtige Antwort zu haben, anstatt auf Selbstorganisation des gesamten Teams zu setzen. Wäre dies ein Softwareprojekt, so würden sich einem Verfechter der agilen Arbeitsweise die Nackenhaare aufstellen. Das Theater ist in vielen Teilen immer noch organisiert wie eine tayloristische Industrieproduktion des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Machen wir das Gedankenexperiment und stellen uns eine Theaterproduktion als Lean-Stratup vor. Das agile Miteinander, die enge Verzahnung aller Gewerke und das gemeinschaftliche Arbeiten in interdisziplinären Teams mit regelmäßigen Retrospektiven – das könnte funktionieren. Doch ein Regisseur mit frühen Bühnenskizzen und Textfragmenten unterwegs durch die Mainzer Fußgängerzone? Probepublikum, das jede Probe bewertet? Also letztlich Fokussierung auf Verständlichkeit, Marktanteile und Monitarisierung? Schwer vorstellbar. Nun ja, zumindest nicht wünschenswert. Mit diesem Konzept werden Hollywood-Blockbuster stromlinienförmig getrimmt, wo jede Szene noch im Schnitt vorgetestet wird, und jegliche ungewohnten oder verstörenden Elemente entfernt werden. Kontroverse Produktionen und neue Unterhaltungsformen sind so kaum möglich.

Spiegelt man diese Erkenntnis zurück auf die IT-Landschaft, so könnte man die Frage mitnehmen, ob die Lean-Startups in den weltweiten Startup-Zentren durch die immer gleichen Blaupausen ihrer Business-Pläne und den immer früher erforderten Beweis der finanziellen Verwertbarkeit ihrer wahren Innovationskraft abseits der ausgetretenen Pfade gefährden, ob auch sie nur noch Blockbuster produzieren können. „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen“, so Henry Ford, „hätten sie gesagt, schnellere Pferde.“

Aus „Das unheimliche Tal“, Thomas Vasek

Seit rund 10 Jahren baut Ishiguro Roboter, die aussehen und sich so verhalten wie Menschen. Sein Ziel ist es, ein grundlegendes Gefühl zu entschlüsseln, das die Japaner „sonzaikan“ nennen – das Gefühl, mit einem realen Menschen zu tun zu haben. Mit der Modellreihe „Geminoid“ (lat. für „zwillingsartig“) kreierte Ishiguro eine neue Kategorie von Robotern, nämlich Duplikate von real existierenden Personen, die dem Original gleichen bis ins Detail. Die Idee dahinter ist so simpel wie genial: Man muss nur das Aussehen und Verhalten einer Person möglichst exakt nachbilden – und kann dann vergleichen, wodurch sich Roboterkopie vom Original noch unterscheidet. Ishiguro wohl berühmteste Schöpfung trägt den Namen „Geminoid H1“ – und ist eine Doppelgänger seiner selbst.

Nach eigenem Bekunden hatte Ishiguro das Gefühl, „in den Spiegel zu schauen“, als er sein Ebenbild das erste Mal vor sich sitzen sah. Auf den ersten Blick spricht, schaut und bewegt sich der Geminoid genauso wie sein Schöpfer. Und doch merkt man auf Videos binnen weniger Sekunden, dass es sich nicht um einen Menschen handelt. Die meisten von uns empfinden dabei ein gruseliges Gefühl. Der japanische Roboter Masahiro Mori beschrieb diesen Effekt schon im Jahr 1970. Das Gefühl von Vertrautheit mit einem Roboter nimmt zwar zunächst zu, je menschenähnlicher er aussieht. Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Dann nimmt die Vertrautheit schlagartig ab, es stellt sich ein befremdliches Gefühl, ein Unbehagen ein – das „unheimliche Tal“, wie Mori den Knick in der Vertrauenskurve nannte.

Moris These war jahrelang in Vergessenheit geraten. Erst im letzten Jahrzehnt gruben die Roboter seinen alten Aufsatz wieder aus. Erst im letzten Jahrzehnt gruben die Roboter seinen alten Aufsatz wieder aus. Seither diskutiert die Forschergemeinde angeregt, ob es das „unheimliche Tal“ tatsächlich gibt – und wenn ja, wie sich der Gruseleffekt bei Androiden erklären lässt. Die Resultate fallen unterschiedlich aus. So meinen manche Forscher, Menschen fühlen sich beim Anblick eines Androiden an eine Leiche erinnert – und damit an den Tod, was unbewusste Abwehrreaktionen auslöse. Andere meinen, die Roboter würden durch ihre immer noch starre Mimik an Menschen erinnern, die an ansteckenden Krankheiten leiden – und daher eine evolutionär bedingte Vermeidungsreaktion auslösen. Plausibler erscheint jedoch eine andere Erklärung: Androide Roboter wecken durch ihr menschenähnliches Erscheinungsbild offenbar Erwartungen, die sie dann doch nicht ganz erfüllen können: Wenn ein Roboter aussieht wie ein Mensch, sich aber nicht ganz so verhält, wirkt er auf uns eben nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Zombie.

Android-Pionier Ishiguro stellte in Experimenten mit seinen Geminoiden fest, dass sich Menschen in Gegenwart eines Androiden zwar anfangs unwohl fühlen, sich aber innerhalb weniger Minuten auf ihr künstliches Gegenüber einstellen – und mit ihm eine ganz natürliche Konversation führen. Und von kleinen Kindern weiß man heut, dass sie im Umgang mit Robotern kaum Probleme haben. Auch der kulturelle Hintergrund scheint einen Einfluss darauf zu haben, wie tief das Misstrauen gegenüber den Maschinen ausfällt. So seien in Japan viele Generationen schon mit roboterhaften Comicfiguren aufgewachsen; sie kennen die Maschinen von dort als Freunde, beobachtet Medienpsychologin Martina Mara. „Bei vielen Europäern dominieren dagegen Ängste, etwa dvor, dass ein Roboter einem den Arbeitsplatz wegnehmen könnte.“ Robert Pfeifer, Experte für Robotik und künstliche Intelligenz and er Universität Zürich, geht die komplizierte Beziehung zwischen Menschen und Maschinen nüchtre-pragmatisch an: Um Vertrauen und Akzeptanz zu erhalten, müssten Roboter aussehen wie Roboter.