Mit Nils Kreutinger, Katharina Linder, Michael Pietsch, Luana Velis, Uwe Zerwer | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Amit Epstein | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Matthias Grübel | Dramaturgie: Alexander Leiffheidt | Fotos: Diana Küster | Premiere Bochum: 29.10.2016 | Premiere Frankfurt: 07.10.2017
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte…“
Franz Kafka, DIE VERWANDLUNG
Die 1912 entstandene Erzählung DIE VERWANDLUNG von Franz Kafka erzählt die Geschichte Gregor Samsas, der sich eines Morgens zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ verwandelt findet. Gregor Samsa passt nicht mehr in die Welt, die Kommunikation mit seinem Umfeld wird zusehends schwieriger, bis er schließlich von seiner Familie für untragbar gehalten wird und zugrunde geht.
Kafkas unsicher gewordene Welt wird in ein vielfach fragmentiertes Spiel mit Perspektiven und Dimensionen übertragen. Aus Menschen werden Puppen, aus Miniaturen Riesen, aus Träumen wird wahnhafte Realität. Kafkas VERWANDLUNG als eine Geschichte der Verwandlungen – im Plural. Denn nicht nur der Protagonist selbst, auch sein herrischer Vater, seine kranke Mutter und seine besorgte Schwester – ja, sogar die Räume der Wohnung verwandeln sich. Nichts ist, wie es scheint, selbst das Vertrauteste wird zur Bedrohung. Bis für die Familie schließlich fest steht: Gregor Samsa muss weg. Kafkas oft irreführende, dennoch präzise und verdunkelnde Sprache findet ihr Gegenstück in Theaterbildern, die das zentrale Thema der Entmenschlichung herausstellen, ohne dabei das Rätsel Kafka bis ins Letzte auflösen zu wollen.
„Welch Glücksfall des Umgangs mit einem Erzähltext am Theater!“Stefan Michalzik, OP, Oktober 2017
„Ein formal großartiger Abend, der die Bochumer Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hinreißt.“
Nachtkritik.de, 29.10.2016
„Ein szenisches Feuerwerk – bei dem Pietschs Puppen eine zentrale Rolle zukommt.“
Allgemeine Zeitung, Rhein Main Presse, 20.10.2017
„Gockels Bilderwelt gewinnt der Vorlage völlig unprätentiös neue Aspekte ab.“
Strandgut, Oktober 2017
Hintergrund
Aus „Auf dünnem Eis“, Alexander Leiffheidt
Obwohl der Titel das Gegenteil suggeriert, ist DIE VERWANDLUNG nicht nur die Geschichte einer Verwandlung. Alles verwandelt sich hier ständig: Räume, Menschen, Monster. Kafkas Sprache erscheint so sachlich, so vertrauenswürdig und zuverlässig, dass sein erster Verleger Hugo Wolff befand, sie erinnere an „den wissenschaftliche(n) Bericht eines Spezialsachverständigen.“ Das ist der literarische Kunstgriff, mit dem der Autor uns Leser auf dünnes Eis führt. Denn in Wahrheit ist nichts in Kafkas Welt zuverlässig, nicht einmal der Titel. Die Falle des Ungeheuren ist jederzeit bereit, über uns zusammenzuschleppen – so wie sie über Gregor zuschnappt. (…)
Bei der Übertragung der VERWANDLUNG auf die Bühne sehen sich Theaterkünstler damit vor ein nicht unwesentliches Anfangsproblem gestellt. Sie müssen interpretieren, müssen das Undarstellbare, das Kafka klug nur sprachlich umzingelt, zum Darstellbaren machen. Gelingt eine Lösung (viele sind denkbar, manche besser als andere), geschieht allerdings etwas Erstaunliches: Der Text Kafkas offenbart sich auf eine Art und Weise, die dem Leser verweigert bleiben muss. Denn das Zusammentreffen der Figuren Kafkas auf der Bühne zwingt den Konflikt, den die Literatur hauptsächlich als inneren Zwiespalt im Denken und Fühlen Gregors schildert, hinaus ins Sicht- und Fühlbare. Die unheimliche Bedrohung aus dem Außen, der Gregor in der Erzählung nur passiv unterliegt, erhält auf der Bühne eine aktive Dimension der Auflehnung, des Widerstands gar. Aus der passiven Verwandlung wird (auch) eine aktive Verweigerung gegenüber der Welt. Und sogar der innere Konflikt des Protagonisten kann auf der Bühne als Kampf mit dem Selbst, mit den Fragmenten einer zusehends zerfallenden Identität gezeigt werden.
So wird aus Kafkas VERWANDLUNG die Geschichte einer radikalen Verweigerung; einer Verweigerung gegenüber dem Funktionieren im Hamsterrad des Erwerbslebens, gegenüber Familie und Gesellschaft, schließlich gegenüber dem Leben überhaupt. Diese Verweigerung des Lebens erweist sich als Vorausnahme, damit aber auch als Negation des Todes – eine furchtbare, einsame, aber philosophisch faszinierende Entscheidung, derer wir den armen Gregor Samsa – Opfer seiner parasitischen Familie – beinahe gar nicht für fähig gehalten hätten. Kafkas Erzählung ist damit keineswegs entschlüsselt. Aber wir könnten aus solcher Warte immerhin feststellen, dass wir „unseren Kafka“ vielleicht doch nicht so gut kannten, wie wir anfangs dachten. Wie dünn das Eis ist, auf dem wir wandeln – als Leser oder Leserin, auch als Zuschauer seiner Texte. Das wäre schon viel.