Die Ratten

Mit Anika Baumann, Ulrike Beerbaum, Sebastian Brandes, Lilith Häßle, Matthias Lamp, Michael Pietsch, Andrea Quirbach, David Schellenberg, Johannes Schmidt, Leoni Schulz, Anna Steffens, Murat Yeginer | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Sophie du Vinage | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Matthias Grübel | Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke | Fotos: Bettina Müller | Premiere: 27.02.2015 |



Die Bewohner der Berliner Mietskaserne leben dicht an dicht. Irgendwo zwischen dem Kostümfundus des Theaterdirektors Hassenreuter und der Kinderbande der morphinsüchtigen Nachbarin Knobbe wohnen Herr und Frau John. Ein Ehepaar, das seine Tage mit Arbeit füllt, seit ihr einziger Sohn, Adalbertchen, gestorben ist. Doch welchen Sinn macht die harte Arbeit, wenn man nach Hause kommt und die Wohnung still bleibt? Frau John überredet ein mittelloses Mädchen, ihr ihr ungewollte Baby zu überlassen. Der Traum vom Nachwuchs erfüllt sich – bis die junge Frau ihr Kind zurückfordert. Zugleich meldet auch Nachbarin Knobbe eines ihrer Kinder als gestohlen. Frau John verteidigt gegenüber den Nachbarn obsessiv ihre Mutterschaft. Eine Hatz beginnt – auf Frau John und auf die kleinen Sehnsuchtsobjekte der Erwachsenen: die Kinder.

Auf der Bühne: Eine Welt zwischen Traum und Albtraum, Wahn und Realität. Gerhart Hauptmanns DIE RATTEN ist ein Sozialdrama, die Mietskaserne ein gesellschaftlicher Querschnitt. Erzählt wird an diesem Abend aber auch das Transzendente, das Geisterhafte und Metaphysische, das ebenso Teil des Stückes von Hauptmann ist, aber nur selten auf der Bühne gezeigt wird. Frau Johns ewig andauernder Kinderwunsch manifestiert sich in Adalbertchen, ihremverstorbenen Sohn, der als Marionette an sechs Meter langen Fäden durch die Bühne und Frau Johns Kopf geistert. Für Frau John ist der Geist Adalbertchens sowohl Zufluchtsort als auch Antrieb. Und er lässt sie niemals los.

„ ein grandioser, von sinnfälligen Bildern schier überbordender Drei-Stunden-Abend.“
Allgemeine Zeitung, 02.03.2015

„eine der sonderbarsten, gleichwohl tief berührenden neueren Umsetzungen der Tragikkomödie“
Rhein-Zeitung, Andreas Pecht, 02.03.2015

„Zum großen Wurf aber wird Jan-Christoph Gockels aufrüttelnder Hauptmann-Abend durch die Puppen von Michael Pietsch. Von Anfang an taumelt Jette Johns verstorbener Sohn Adalbertchen als kalkweiße, glubschäugige Marionette über die Bühne, spielt an Fäden geführt vom Puppenbauer Pietsch, Fußball mit seiner Mutter und ist als Wahnbild ununterbrochen lebendig. Später kommen noch weitere Handpuppen hinzu, alle ähneln dabei irgendwie den Schauspielern, von allen geht eine gruselige Todeskälte aus, Albtraumwesen wie aus einem Roman von Stephen King.“
FAZ Rhein-Main, Matthias Bischoff, 02.03.2015

„Es ist schon eine beachtliche Leistung, wenn man ein Publikum in nur einem Stück das Fürchten, Lachen und Leiden lehrt. Die innovative Abwandlung Jan-Christoph Gockels von „Die Ratten“ avanciert zu einem kleinen schillernden Diamant des Dramas.“
Stuz online, 03.03.2015

Hintergrund

Aus dem Tagebuch von Gerhart Hauptmann

Grethens Traum. Sie geht in den Garten. Sieht Kinderwagen stehen. Nanu, sagt sie, ich denke, das Kind ist tot. Wir haben es in die Sonne gestellt, sagt Frau Luchte (…). In der Sonne hat es wieder zu athmen angefangen, ist wieder lebendig geworden. Es richtet sich auf und hat dieselben graublauen Augen wie ich selbst (…). Diese Augen, sagt Grethe, sahen wohin, wohin ich nicht sehen konnte. Ich ging hin und da legte sich das Kind wieder, das weiße Strümpfchen an hatte, und war ganz kalt.

„Auf Wiesen grün“, Heiner Müller

Auf Wiesen grün
Viel Blumen blühn
Die blauen den Kleinen
Die gelben den Schweinen
Der Liebsten die roten
Die weißen den Toten

„Vom Traum vom ewigen Leben“, Joseph Chapiro im Interview mit Gerhart Hauptmann (Winter 1922/23)

Ein Mensch hat sich soeben das Leben genommen, eine arme Frau, der es wahrscheinlich so schlecht ging, daß sie dies – trotz allem – herrliche Leben ärger fand als den Tod. Was ist in diesem Falle tragischer: die Verzweiflung am Leben oder der Tod selbst? Ich glaube das erstere. Nicht, daß ich den Tod als das Ende aller Dinge betrachte, nein, das ganz gewiß nicht. Ich bin tief davon überzeugt, daß er nur eine erträglichere Form des Lebens ist, und daß man zu ihm greift, wenn alle anderen Mittel, den Schmerz und die Qual des Daseins zu lindern, nicht mehr verfangen wollen.  Kokain, Brom, Opium, Morphium: Das alles sind Versuche, das Leben zu mildern – wie man Zucker in den Tee tut –, und der Tod ist das wirksamste, erlösendste Mittel, jene ‚Kunst des Vergessens’, um die Themistokles vergeblich flehte. Keineswegs aber ist er das absolute Ende unserer Existenz, ebenso wenig wie der Schlaf.

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte ich. „Glauben Sie, um es landläufig auszudrücken, an eine Weiterexistenz des Menschen im Jenseits?“

Möglich, sehr möglich, obwohl ich Ihnen das nur schwer erklären könnte. Ich nehme aber an, daß es ein Leben nach dem Tod gibt, wie es eines vor der Geburt gegeben hat. Ehe wir geboren wurden, waren wir, denn sonst wären wir nicht geboren worden. Mohammed hält den Zweiflern entgegen: Sollte der, der euch das erste Mal hervorgerufen hat, es nicht zum zweiten Male können? Und die Gîta sagt: Dem Nichtseienden wird keine Existenz zuteil, dem Seienden keine Nichtexistenz! – oder: Dem Geborenen ist das Sterben sicher, ebenso dem Gestorbenen das Geborenwerden. (…) Da ich aber der Überzeugung bin, daß aus nichts nichts entstehen kann, so glaube ich, daß jede Illusion, jeder Traum, alles Unwirkliche einmal Wirklichkeit war, und daß wir auch bei den phantastischsten Visionen auf dem festen, wenn auch unfasslichen Boden der Wirklichkeit stehen. Eine Vision ist der Ausdruck von etwas Reellem, ja etwas Erlebtem. (…) Alles im Leben und in der Welt ist nur Widerspiegelung: Die Welt – die des Menschen, der Mensch – die der Welt, so wie das physische Wesen das psychische und das psychische das physische widerspiegelt. Und alles zusammen bildet die ununterbrochene Kette des ewigen Lebens, die einem Kreise gleicht, ohne Anfang und Ende, wo jede Stelle der Anfang und zugleich das Ende des ganzen Kreises ist. Vergangenheit und Zukunft trennt voneinander keine schärfere Grenze als Wachen von Schlaf, als Ebbe von Flut. Aber immer, wenn wir einen Schritt vorwärts getan, eine Etappe des ewigen Lebens durchmessen haben, schließt sich hinter uns der Kreis wie eine Tür, die zufällt. Und so wandern wir weiter von Tür zu Tür und können von der Vergangenheit nur träumen. Nicht Bücher, nicht Erzählungen können uns enthüllen, sondern nur Träume. Und da wir selbst von der Gegenwart nicht alles wissen und von der Vergangenheit nur schattenhafte Fragmente sehen, wie sollten wir von der Zukunft mehr ahnen als das, was uns logische Schlüsse, innerlichst empfundene Visionen offenbaren?“