Mit Anika Baumann, Sebastian Brandes, Andreas Catjar, Armin Dillenberger, Monika Dortschy, Julian von Hansemann, Martin Herrmann, Lorenz Klee, Henner Momann, Michael Pietsch, Johannes Schmidt, Leoni Schulz, Nicolas Fethi Türksever |Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Sophie du Vinage | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Andreas Catjar | Dramaturgie: Jörg Vorhaben | Dramaturgische Mitarbeit: Bernd Ritter | Fotos: Andreas Etter | Premiere: 28.04.2018
„Wir brauchen weiter nichts, / Als die Erzählung dessen, was wir längst / Vollbrachten, eh wir kamen, neuer Taten / Bedarf es nicht, um sie zu bändigen.“
Friedrich Hebbel
Der große deutsche Mythos wird ent-mystifiziert: DIE NIBELUNGEN – Hebbels „deutsches Nationalepos“, die blutige Heldensage wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zu propagandistischen Zwecken ideologisch aufgeladen. Aus dem Blickwinkel der Gegenwart: eine Chronologie der dunklen Seiten, Sehnsüchte und Abgründe deutscher Geschichte. Und heute? Deutschlands „neue Rechte“ wünscht sich wieder eine Vergangenheit, auf die die Deutschen stolz sein können, die man sich nicht von einem „Fliegenschiss“ verderben lassen möchte.
Wir zeigen, wie Erzählungen tradiert und als Waffen instrumentalisiert werden, machen den Spielmann Volker zum Propagandisten des Hofes: Mithilfe seines „Imaginariums“ – einer fahrenden Puppen-Theaterbude – schürt er die Angst vor dem Fremden und den Hass der Burgunden, er strickt am Mythos. Für den müssen zuerst die beiden Fremden Siegfried und Kriemhild herhalten, schließlich wollen die Recken vom Rhein selbst Geschichte schreiben: „Gierig auf Tod sie schreiben in den Schnee / Mit Schwert und Blut das deutsche ABC.“ (Heiner Müller)
Ein gigantischer Koloss, der von der Bühne bis aufs Dach des Staatstheaters ragt, stürzt schließlich in sich zusammen. Am Ende sind es die beiden Frauen Kriemhild und Brunhild, die über den Männern und dem zerstörten Mythos thronen.
„Ein temporeicher Theater-Blockbuster in Tiefschwarz. Gockel zeigt Hebbels "Nibelungen" als ein vergiftetes Stück, als von den Rechten gekaperten Mythos. Er zeigt, wie die Kultur instrumentalisiert wird, wie die Zeit die Sicht auf einen Stoff prägt und verändert.Nachtkritik.de, 28.04.2018
“Pietsch sorgt mit seinem grandiosen Puppenspiel für entlarvende Dopplereffekte.“
Allgemeine Zeitung, 30.04.2018
„Das letzte Wort haben die Frauen, die die ganze Heldenbrut am liebsten in den Schoß zurückschieben wollen. In Kriemhilds und Brunhilds Klage bricht der Jubel über Gockels gewagten Reckenstreit. Einige Buhrufe sind freilich auch dabei. Aber das kann man wohl verschmerzen, wenn man auf Schultern von Riesen steht.“
Allgemeine Zeitung, 30.04.2018
„Gockel zeigt dabei eine durchaus unterhaltsame, manchmal komische und flotte Handlung. Mit seinem Stoff und dessen Wirkungen aber hat er sich gründlich auseinandergesetzt. Und schonungslos.“
Frankfurter Neue Presse, 02.05.2018
Hintergrund
Aus „Verrat, Heldenmut und Opfergang – Die Nibelungen als Fluch und Schicksal“, Herfried Münkler
„Wenn man“, so August Wilhelm Schlegel, „das Nibelungenlied, das eine glorreiche Welt darstellt, große Menschen mit einer vaterländischen männlichen Gesinnung, wenn man ein solches Werk zum Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend macht, dann wird es auch gelingen, kraftvolle Männer zu erziehen und die Einheit des Reiches wieder herzustellen.“ Ein „deutsches Nationalepos“ sei das Nibelungenlied, meinte einer seiner ersten Herausgeber, der Jurist und Germanist Friedrich von der Hagen, und als schließlich die Wiederherstellung des Reichs in greifbare Nähe gerückt war, schrieb Karl Simrock, ein weiterer Herausgeber, über das Epos: „Das ist Feld- und Zeltpoesie, damit kann man Armeen aus dem Boden stampfen, wenn es den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern, der römischen Anmaßung zu wehren gilt.“ (…)
Die im Zentrum des Nibelungenlieds stehende Gegenüberstellung von Siegfried und Hagen, dem offenherzig-naiven, mitunter vorlauten, aber immer weltzugewandt-optimistischen Heldentypus auf der einen und dem erfahrenen und vielwissenden, aber verschlossenen, im Spiel der Macht versierten und doch zu fatalistischem Pessimismus neigenden Kämpfertyp, wird in der politischen Nutzung des Liedes aufgelöst: Man bindet beide in den nationalen Heroenkreis ein, weil man auf keinen von ihnen verzichten kann. Im Kampf gegen eine Welt voll Feinde braucht man alle, die blonden Streiter wie die dunkelhaarigen Kämpfer.
„Katastrophenfaszination und Totengräberdienst „, Klaus Heinrich und Heiner Müller in einem Gespräch mit Wolfgang Storch
KLAUS HEINRICH: Die Toten, die Präsenz des Totenreiches und damit das Vorwegprogrammiertsein der Katastrophe, das ist – meine ich –, würde ich als These immer vertreten – ein entscheidender National-Identifikationsmechanismus gewesen. Die sich im 19. Jahrhundert das Reich erwandern, erwandern sich zugleich den Tod. Im mit dem Harmlosen anzufangen: Das zeigen schon die Müller-Lieder in der Schubert-Vertonung, daß das Ziel des Wanderns der Tod ist, und die große Wanderbewegung, ich meine die im 19. Jahrhundert ist eine, die auf beides zielt: das Reich und den Tod; das zeigt, daß die große, ich meine: die Monumentalarchitektur, „Totengräberarchitektur“ ist, schon im Wilhelminismus, nicht erst später in der Vorstellung eines riesigen deutschen Reiches durch Europa, das von „Totenburgen“ umgeben ist; schon Kyffhäuser-Denkmal und Völkerschlachtdenkmal sind ja „Totenburgen“, und da wird der Nationalismus, wird die Nation eingesargt, so wie die Boulléeschen Entwürfe quasi die Gattung einsargen – alles, was das Gattungsarchitektur ist oder sich als Gattungsarchitektur geriert, ist monumentale Gedenkarchitektur. Dort wird die Gattung eingesargt, und hier wird die Nation eingesargt in dieser Architektur, und so wird sie in gewisser Weise auch als zur Katastrophe bestimmt vorgeführt und in gewisser Weise schon mit dem Massengrab versehen vorgeführt in der völkischen Identifikation mit dem Nibelungenlied. Das wäre also die zugespitzte These, bezogen auf diese ältere, bis heute nachwirkende Faszination.
Nun ist es heute natürlich keine völkische Nation mehr, jedenfalls nicht mehr allein. Heute ist es die viel allgemeinere, sozusagen privat vom Versandhauskatalog mit Mythen- und Kultsplittern zu befriedigende – wenn man alle Veranstaltungen heute hier in Berlin-West passieren läßt, alle haben sie etwas vom Versandhauskatalog, wo Mythen- und Kultsplitter angeboten werden; das kann man privat zu sich nehmen, aber es ist eine ganz allgemeine Faszination. Das beweisen die Zeitungsstände mit der analphabetischen Massenpresse, die unsere tägliche Katastrophe zeigen; die großen Sammelprogramme der Kinos, die auf Katastrophe aus sind – da ist die Pornographie auf Platz 2, und auf Platz 1 ist inzwischen, das ist wirklich ein Triumph, die Katastrophe-, und „Einübung in Katastrophe“ ist so etwas wie, wenn man so will, die kollektive, sozial-psychologisch verbindliche, allgemeine kulturelle Richtlinie in unseren Ländern. (…)
WOLFGANG STORCH: Die Katastrophe ist eine Götterdämmerung. Die Katastrophe ist nicht das Ende der Welt, sondern ein notwendiger Durchgang.
KLAUS HEINRICH: Das sind die berühmten Initiationsinterpretationen, also die Durchgangsinterpretationen. Die leisten sich erstmals die isländischen Edda-Dichter und leisten sich heute wieder die Katastrophen-Theoretiker, die sagen: Katastrophenangst, wunderbar! Alle große Angst in dieser Hinsicht ist Initiationsangst und zeigt den Durchgang. Was ich vor vielen Jahren so empörend fand: daß Eliade sagte, nichts kennzeichne die Angst vor der Atombombe besser, als daß die Welt in eine Erneuerungsphase eintritt, also eine Initiationsangst besteht, und je stärker die Angst, desto großartiger das, was jenseits des Durchgangs liegt! Das ist ein großer Trick, mit dem man Katastrophenfaszination in Lebensfaszination umzudeuten versucht.
HEINER MÜLLER: Es gibt in der Karl-Marx-Allee, in Ost-Berlin, eine Leuchtschrift über einem Laden „Chemie im Heim“. Das ist eine schöne Formulierung für die Eliade-Formel.
KLAUS HEINRICH: Das ist sehr schön. Ersetzt unter anderem den Zimmermann: „Chemie im Heim“. Auch beim Herakles mainomenos wäre das bittere Ende sehr schnell mit „Chemie im Heim“ zu reparieren gewesen.
HEINER MÜLLER: Ein anderer Punkt. Heiner Kipphardt kam zur Beerdigung von Ernst Busch, mit dem er sehr befreundet war, nach Ost-Berlin, wo er eine Zeitlang nicht hin konnte. Was ihm bei dieser Beerdigung auffiel, ist die Eingemeindung, die Vereinnahmung des Toten. Busch war immer sehr renitent : wenn Ulbricht ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte Busch immer: „Natürlich schlecht, Herr Ulbricht.“
Plötzlich war er „Unser Ernst Busch“. Dem Kipphardt fiel die Intensität dieser Vereinnahmung auf. Daß der Staat im Kessel zunehmend seine Legitimität von den Toten bezieht. Etwas hat nicht funktioniert; die Blütenträume sind nicht gereift. Auch dieser böse Lyotard – ich glaube, es war Lyotard in einem Text gegen Marchais: „Das Zaubergefecht oder die letzte Flöte“-, Lyotard schreibt, daß die Commune immer nur tot siegen kann. Oder Bucharin: Die Sozialisten können siegen, der Sozialismus nicht. Der Punkt, der mich interessiert, wo plötzlich der Nibelungen-Mythos für die Linke eine Faszination kriegt.
KLAUS HEINRICH: Wenn man es analysiert, glaube ich nicht, daß es der Nibelungen-Mythos ist. Qua Großmißverständnis, nämlich den Nibelungen-Mythos sozusagen als ein Stück der ursprungsmächtigen Vorzeit aufzunehmen und zu sagen: Das waren die Anfänge unseres Volkes, wurde die Totenreichs-Faszination, die den Nibelungen-Mythos transportiert, unmittelbar auf den Endzustand des Volkes projiziert, zu dem wir jetzt kommen – also die Reichsideologie. Nicht per Mißverständnis, sondern per sozusagen innerer Konsequenz kann man diesen Stoff nehmen, weil die Reichsmythologie selber mit den Faszinationselementen eines Totenreiches besetzt ist; der Nationalstaat wird, in dem Augenblick, wo er perfekt ist, zu Grabe getragen. (…)
HEINER MÜLLER: Ich war gerade in Hamburg. Alle waren da ganz gierig auf die Wahlergebnisse, die mich nicht interessieren. Da fiel mir zum ersten Mal ein Zusammenhang auf zwischen der Misere des Theaters in der Bundesrepublik und dem Trend zum Rechtsradikalismus. Theater kann es eigentlich nur geben auf irgendeiner nationalen Basis. Und da gibt es ein Vakuum, in das jetzt plötzlich rechtsradikale Strömungen und Bedürfnisse reinkommen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Theaterkrise und dem Interesse für Faschismus, für den Chic des Faschismus? Vielleicht sind das sehr kleine Gruppen?
Ist das auch eine Suche nach einem wertfreien Raum, auch ein Reagieren gegen die Warenwelt? Das ist etwas, was man ernst nehmen muß, weil es dafür im Moment keinen Ersatz gibt in diesen Gesellschaften.