„Green Corridors“ läuft an den Kammerspielen und am Podil-Theater Kiew. Nun hat der Münchner Regisseur die Kollegen besucht – und eine Kulturwelt zwischen Ausnahmezustand und trotzigem Jetzt-erst-recht gefunden.
Kurz vor Mitternacht klingelt mein Telefon: “Hallo Jan, hier ist Maryna. Ich bin in München angekommen.” Es ist der Vorabend einer GREEN CORRIDORS Vorstellung an den Kammerspielen. Ein Stück, das ich inszeniert habe und in dem Maryna spielt. Sie war nach dem 24.Februar 2022 nach Deutschland geflohen, hat auf deutschen Bühnen gespielt, im Mai diesen Jahres ist sie wieder nach Kyjiw zurückgezogen. Jetzt kommt sie für jede Vorstellung aus der Ukraine hierher. “Das Hotel hat keine Reservierung auf meinen Namen… und sie sagen, es sei alles ausgebucht… wegen eines Konzerts in München.” Nach 30 Stunden im Zug, findet das Hotel die Zimmerreservierung nicht, hat das Zimmer (mutmaßlich) an Rammstein-Fans vermietet, die an diesem Wochenende München überschwemmen.
Nach der Vorstellung essen wir noch etwas im blauen Haus und machen uns direkt auf den Weg in die Ukraine. Maryna fährt nach Hause, ich begleite sie. Gemeinsam wollen wir in den kommenden Tagen eine Aufführung von GREEN CORRIDORS in Kyjiw anschauen. Das Theater Podil hat den Text – kurz nach unserer Premiere im April – dort herausgebracht. Im Probenprozess waren wir mit den Kolleg:innen in engem Kontakt, hätten gerne die beiden Premieren in zeitlicher Nähe herausgebracht – was aber logistisch nicht möglich war. Nun ist unser Besuch auch gedacht, um die kulturellen Verbindungen aufrechtzuerhalten und zu erleben, wie dieser Text in der Ukraine erzählt ist.
Am Abend machen wir uns auf den Weg zum Theater Podil, um die hiesige Inszenierung von GREEN CORRIDORS zu sehen. Das Theater liegt in einem Altstadtviertel und es ist der erste und, wie ich es verstanden habe, einzige Theaterneubau in der unabhängigen Ukraine. Sandsäcke vor den Fenstern schützen das Foyer, welches hier der Schutzraum bei Luftalarm ist. Theatervorstellungen beginnen in Kyjiw derzeit immer um 18 Uhr, denn es gibt eine Ausgangssperre in der Nacht. Bars und Restaurants schließen um 22Uhr. Regisseur Maksym Golenko, der GREEN CORRIDORS hier inszeniert hat, begrüßt uns. Das Foyer und der Saal sind voll, so wie nahezu jede Veranstaltung, die ich in dieser Woche besuche. Auch in Restaurants und Bars das gleiche Bild. Die Menschen in Kyjiw gehen aus, gehen ins Theater. “culture is our shelter – Kultur ist unser Schutzraum“, sagt Maksym. Die Menschen suchen Orte, an denen sie etwas anderes erleben können oder – im Gegenteil – sich mit dem, was sie tagtäglich erleben, gemeinsam zu beschäftigen.
Der Wunsch nach Dialog und Austausch wird bei fast jeder Begegnung geäußert und Maryna sagt, dass “die Möglichkeit über unsere Situation auf der Bühne zu sprechen” sie für jede Reise nach München motiviere. Wenn sie vom Krieg spricht, der vergangenes Jahr begann, verwendet Maryna immer die Formulierung: “full-scale invasion”, denn Krieg herrscht in der Ukraine schon seit 2014, als Russland die Krim annektierte und die Kämpfe im Donbass begannen. Sie sagt, dass es damals nicht nur an Aufmerksamkeit aus dem Ausland mangelte, sondern auch aus dem Land selbst. “Wir haben damals nicht verstanden, was passiert und dass 2014 nur der erste Schritt Russlands war.”
Während meiner Woche in Kyjiw wird fast täglich Luftalarm ausgelöst. Einmal nachts – ich ziehe in die Tiefgarage um. Maryna schreibt mir eine Nachricht: sie schläft bei Alarm im Flur, dann ist sie weiter von den Fenstern weg. Den Volltreffer eine Rakete würde sie so nicht überleben, aber – dank des Patriot-Systems schießt die ukrainische Luftabwehr über Kyjiw fast jede Rakete ab und die Gefahr für die Menschen geht dann “nur” von herabstürzenden Trümmerteilen aus. Also: lieber drinnen bleiben, weit weg vom Dach und den Fenstern, statt durchs Freie zum nächsten Schutzkeller zu eilen. “Kyjiw ist wahrscheinlich grade der sicherste Ort in der Ukraine” sagt Maryna, “andere Städte haben nicht so gute Luftabwehr.” So wie Odessa, wo sie herkommt und wo in einer Nacht viele Menschen bei einem Raketeneinschlag sterben.
Viele Theatermenschen sind – nach ihrer Flucht – in die Ukraine zurückgekehrt: die GREEN CORRIDORS-Autorin Natalia Vorozbhyt und Maryna zum Beispiel. Ihre Rückkehr, ihr Umzug mit ihrer zwölfjährigen Tochter zurück in die Ukraine, fühlt sich für sie immer noch richtig an. Am letzten Tag meiner Reise, sitzen wir in ihrer Wohnung und sie sagt, dass sie immer hier leben möchte, “außer wenn Russland die komplette Ukraine erobert? Aber was
wäre das für eine Welt,” fragt sie. Sie fühlt sich europäisch, in der Ukraine. Das ist kein Widerspruch. Nach dem 24. Februar dachte sie, dass sie nie wieder auf einer Bühne stehen wird. Im Schock floh sie mit ihrer Tochter nach Deutschland. Nach ein paar Tagen fühlte sie sich so schuldig, nicht in ihrem Heimatland zu helfen, dass sie zurückfuhr – ohne ihre Tochter, die bei Freunden blieb. Im Zug zurück in ihre Heimat saßen ganze neun Personen, während Millionen das Land verließen. Sie hat überlegt selbst zu kämpfen, dann aber als Freiwillige in Lwiw gearbeitet, hat in Polen Ferngläser und anderes Material für Schauspielkollegen an der Front besorgt. Irgendwann fühlte sie sich dann schuldig, nicht bei ihrer Tochter zu sein und kam wieder über den gleichen Grenzübergang zurück in die EU.
Vor genau einem Jahr gab es dann die Möglichkeit für das Left-Bank-Theatre BAD ROADS – auch ein Text von Natalia Vorozbhyt – in der EU zu touren. Bei der ersten Vorstellung in Riga stiegen ihr die Tränen bei jeder ukrainischen Stadt, die im Text genannt wurde, in die Augen und sie konnte kaum die Vorstellung zu Ende spielen. Aber ihre Arbeit fühlte sich ab diesem Tag wieder sinnvoll an, da sie auf der Bühne etwas über das Hier und Jetzt erzählen kann. So endet unser Gespräch und meine Reise, wie auch GREEN CORRIDORS mit dem Gedanken: “Heute zum Abschluss mal was Positives. Aber morgen …bereiten wir uns alle auf die nächste Szene vor!”
Hier gehts zum ganzen Text, der am 16. Juli 2023 als Gastbeitrag von Jan-Christoph Gockel in der Süddeutschen Zeitung erschien.
Ebenfalls zum Thema erschienen ist ein Interview mit Jan-Christoph Gockel als Audiobeitrag beim Bayerischen Rundfunk: Podcast Kulturwelt
Begleitet wurde die Reisegruppe aus München von der Schriftstellerin Andrea Paluch, deren Reportage am 6. Juli 2023 in der Zeit unter dem Titel IN DER TRAGENDEN ROLLE: DAS THEATER, abgedruckt wurde: https://www.zeit.de/2023/29/ukraine-theater-kultur-kiew/komplettansicht
Nach der Aufführung in den Münchner Kammerspielen am 11. Juni machen sich Gockel, Melnyk und Maryna Klimova (eine der Hauptdarstellerinnen) auf die Zugreise nach Kiew, um zwei Tage später die Inszenierung desselben Stückes am Kiewer Podil-Theater zu besuchen. Dieser Reisegruppe schließe ich mich an, um zu sehen, wie Theater in Zeiten des Krieges funktioniert. […]
[Das ist] Die Währung, die für die Kiewer Theater und die Ukraine wirklich zählt: Aufmerksamkeit. Jeder Kontakt in der Ukraine endete mit den Worten: „Danke, dass ihr hier wart und berichtet.“ Ich fange schon an, mich an der Sinnhaftigkeit meiner Reise zu freuen. Wären da nicht die Realität und die Währung, die noch mehr zählt: „Mehr Waffen.“ Ohne Verteidigung keine Theater und keine Ukraine, das ist allen klar. Als meine Warn-App den nächsten Luftalarm verkündet, habe ich die Ukraine schon verlassen. Nur in Gedanken bin ich noch dort.
ANDREA PALUCH, 6. JULI 2023, DIE ZEIT