Staatstheater Kassel: Katharina Brehl, Eva-Maria Keller, Hagen Oechel, Aljoscha Langel, Michael Pietsch / Christian Pfütze, Jakob Benkhofer, Marius Bistritzky | Staatstheater Mainz: Ulrike Beerbaum, Monika Dortschy, Lorenz Klee/ Stefan Graf/ Matthias Lamp, Felix Mühlen / Julian von Hansemann, Michael Pietsch, Matthias Spaan/ Daniel Friedl, André Willund/ Henner Momann | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Sophie du Vinage | Puppenbau: Michael Pietsch | Dramaturgie: David Schliesing | Fotos: Katrin Ribbe | Premiere: 08.03.2013 | Premiere Kassel: 04. Dezember 2021
„Und dann kommt doch noch die Geschichte dazwischen.“
GRIMM – EIN DEUTSCHES MÄRCHEN
GRIMM – EIN DEUTSCHES MÄRCHEN versucht die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm, die Biographie ihrer Familie und die Umstände ihrer Lebenszeit in einen Theaterabend zu packen. Dabei wird die Biografie der Brüder Grimm durch den surreal verzerrenden Spiegel ihrer eigenen Märchenkreationen betrachtet. Wo verschwimmen Fantasie und grausame Realität? Die Grimm’schen Glorreichen Sieben treffen auf historische Ereignisse, Tiefenpsychologie, Sprachgeschichte, das gigantische Projekt des ersten deutschen Wörterbuchs und entspinnen so einen Abend über kollektive Identität.
„Sie haben alles gewollt, alles gewagt und alles gewonnen: Jubel, Bravos, ‚Standing Ovations’ nach der Uraufführung im Kleinen Haus des Staatstheaters. Was da mit selbst gezimmerter Vorlage gelingt, ist ein Theatermärchen aus der deutschen Staatstheaterprovinz.“Darmstädter Echo, Stefan Benz, 12.03.2013
„Grimm. Ein deutsches Märchen’ gehört mit Abstand zum Besten, was das Mainzer Schauspiel seit Jahren zu bieten hat, eine Produktion, die man zur Feier von 200 Jahren Kinder- und Hausmärchen eigentlich auf Deutschlandtournee schicken müsste.“
Darmstädter Echo, Stefan Benz, 12.03.2013
„Ein verspielter und opulenter Bilderbogen“
Frankfurter Rundschau, 11.03.2013
Hintergrund
Auszug aus dem Projekt-Wörterbuch, Beiträge von David Schliesing, Nadja Blank sowie Originalzitate aus der Inszenierungsfassung
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ARCHETYPEN sind die im kollektiven Unterbewusstsein angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, wobei vor allem elementare Erfahrungen wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Trennung und der Tod in der Seele der Menschen eine archetypische Verankerung besitzen. Sie haben zu allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Kulturen ähnliche Bilder – in Form von Träumen, Visionen, Mythen und Märchen – hervorgebracht, und können als kollektive Menschheitserfahrung gelten. Das Modell der Archetypen gehört zu den Grundpfeilern der Analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung.
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BIEDERMEIER: Nach Jahren des Krieges suchen Menschen die Ruhe des eigenen Heims. Das Wohnzimmer, ausgestattet mit schlichten, in warmen Farbtönen gehaltenen Möbeln, wird zum Kennzeichen des um 1815 anbrechenden „Biedermeier“: einer überschaubaren Welt, die Ordnung und Halt in unruhigen Zeiten bietet. Die Familie, über Jahrhunderte vor allem eine Zweckgemeinschaft, wandelt sich in einen Ort der Geborgenheit. Liebe und Lob ersetzen bei der Erziehung zunehmend den Stock, Eltern und Kinder verbringen gemeinsame Spiel- und Lesestunden. Die Bürger erheben die Bildung zum neuen Ideal der Zeit. Sie vertiefen sich in Philosophie, Politik und Poesie, musizieren, lesen, debattieren.
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DEUTSCHLAND IM ZEITALTER DER ROMANTIK: 1789 löst die Französische Revolution mit ihrem Ruf nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ eine Kette von politischen Umbrüchen und Umwälzungen aus.
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ERZÄHLEN: Vielleicht ist die eigentliche Funktion des Erzählens Gemeinschaft zu stiften.
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FAMILIE: Jacob und Wilhelm Grimm verbrachten fast ihr ganzes Leben zusammen. Sie wuchsen in einer großen Familie mit vier Geschwistern auf. Der Vater verstarb früh und Jacob, der älteste Bruder, nahm seinen Platz ein. Die Mutter wird nach ihrem Ableben durch ihre Schwester und diese später durch die Ehefrau Wilhelms als Frau im Hause Grimm ersetzt. Familiäre Gemeinschaft war für die Brüder überlebenswichtig. Auch die Teilhabe am Romantischen Zirkel mit Clemens Brentano und Achim von Arnim entsprach einer festen Gemeinschaft wie auch später der Zusammenschluss der Göttinger Sieben im Jahr 1837. Die Brüder Grimm brauchten die Gemeinschaft, strebten nach der großen Familie und trafen damit den Nerv der Zeit – die Sehnsucht nach einer geeinten Nation.
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GRIMM, JACOB LUDWIG CARL (1786-1859): Ihre Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ ist das weltweit meistgelesene deutsche Buch, als Gelehrte haben sie das Wissen über unsere Sprache revolutioniert, und wie niemand vor ihnen haben sie „Brüderlichkeit“ als Lebensform begriffen: Seit ihrer Kindheit lebten Jacob und Wilhelm meist unter einem Dach und arbeiteten gemeinsam als Journalisten und Hochschullehrer, als Bibliothekare und Politiker, als engagierte Zeitgenossen und zurückgezogenen Gelehrte. Der weitgereiste Diplomat Jacob, der 1814/15 am Wiener Kongress teilnahm und 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung wurde sowie der Familienvater Wilhelm, geselliger Erzähler und Freund der Dichter – es waren höchst unterschiedliche Brüder, die leidenschaftlich und rücksichtslos die Vergangenheit von Literatur, Recht und Religion erkundeten, um ihre Gegenwart zu verstehen.
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MÄRCHEN stellen kollektive Träume dar, sie greifen zurück auf eine Bildsprache, die allen Menschen gemeinsam ist. Sie werden in den Grundmustern und Hauptmotiven weltweit erzählt, und sie bedienen sich dabei einer Lingua Franca, die im Gefühl, im Unbewussten angelegt ist und in der wir uns international verständigen können.
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SPRACHE: Sprachgeschichte ist wie alle Geschichte ein Teil der Gesellschaftsgeschichte. Diese Erkenntnis gilt bereits für die ältesten Phasen der menschlichen Entwicklung. Denn das Leben des Menschen verläuft in der Gemeinschaft mit anderen. Die verschiedenen Formen menschlicher Gemeinschaft bedürfen als Mittel der Verständigung der Sprache, die bei ihrer Tätigkeit und in enger Verbindung mit dem Denken entstanden ist. Die Gesellschaft konstituiert sich gewissermaßen durch Gesellschaft und Kommunikation.
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WÖRTERBUCH: Das neue Grimm’sche Wörterbuch soll „eine Naturgeschichte der einzelnen Wörter“ werden. Es soll Bedeutungen nicht wie ein Lexikon erklären. Stattdessen sollen Textbeispiele belegen, wie der Gebrauch sich im Lauf der Zeit gewandelt hat. Im besten Fall wird die jeweils älteste Form eines Stichwortes rekonstruiert. Denn „wörter verlangen beispiele (…) ohne welche ihre beste kraft verloren ging“, schreibt Jacob Grimm. Er will die Geschichte der neuhochdeutschen Sprache als „Geschichte des deutschen Geistes“ darstellen, indem er in ihrem frühen Gebrauch deren „Urbegriffe“ aufspürt und so die vergessenen Wurzeln des Deutschen freilegt.