Politische Poesie

VERÖFFENTLICHT AM: Oktober 9, 2022

Christoph Leibolds Beitrag zum Podcast des KulturJournals für Bayern 2

 

 

Ich besuchte ein ethnologisches Museum oder „Kolonialmuseum“, wie es früher geheißen hatte.

Die Bühne gleicht einem Museumsdepot. Links Metallregale, in denen Sperrholzboxen lagern. Boxen, in denen, wie das Stück nahelegt, verschleppte Kulturgüter verpackt sind. Rechts containergroße Kisten, deren Außenwände auch als Projektionsflächen für Videobilder dienen können. „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“ heißt die neue Inszenierung von Jan-Christoph Gockel, der einmal mehr mit dem Puppenspieler Michael Pietsch zusammenarbeitet. Als Team sind sie „Peaches“ und „Rooster“.

„Unsere Spottnamen peach, der Pfirsich und rooster, Gockel. peaches&rooster steht eigentlich für das gemeinsame Machen.“

Bei diesem gemeinsamen Machen verstehen sich peaches&rooster allerdings weniger als Duo, sondern eher als Kern eines Kollektivs mit wechselnden künstlerischen Partnern, das sich in jeder Arbeit aufs Neue formiert. Häufig stammen diese Partner aus Afrika, etwa beim Kongo Theaterprojekt COLTANFIEBER, aus dem später ein Dokumentarfilm wurde. Oder eben im neuen Stück, das am kommenden Wochenende an den Münchner Kammerspielen Premiere feiert. Darin fließt vieles zusammen, was die Produktionen von peaches&rooster über veränderliche Arbeitszusammenhänge hinweg verbindet und stark macht.

Olivia Ebert, Dramaturgin der Kammerspiele beschreibt es so: „Das ist der Medienmix, würd ich sagen. Es wird ja auch viel mit Video gearbeitet, in allen der Arbeiten. Und diese Lust am Collagieren, am Zusammenführen von unterschiedlichsten Medien und Einflüssen.“

So entstehen meist aus der Improvisation entwickelte, überbordende ästhetische Wundertüten, in denen Figuren- und Schauspielertheater zusammenfließen. Dazu kommen vorproduzierte Videosequenzen oder Live-Szenen aus dem Backstagebereich, die per Video auf die Bühne übertragen werden. Das alles inhaltlich ins Fantastische, Surreale ausgreifend. Aber, wie Jan-Christoph Gockel betont, immer die Realität im Blick behaltend. Wie er am Beispiel von „Vision einer Rückkehr“ darlegt: „Wir haben gesagt wir wollen zur Restitution arbeiten und das ist ja politisch sehr heißt diskutiert gerade. Die Benin-Bronzen kehren jetzt viele zurück. Wir dachten aber, was ist die Aufgabe von Kunst in solchen Debatten? Was ist denn unsere Perspektive? Und na klar, beschäftigen wir uns bei der Restitution mit Fakten, aber trotzdem ist, glaub ich, jedes Mal die Suche, der Realität eine andere Perspektive abzugewinnen.“

Zu den harten Fakten, die in „Vision einer Rückkehr“ Ausgangspunkt für eine andere Sichtweise werden, gehört die Tatsache, dass 98% der zu Kolonialzeit verschleppten Kulturgüter gar nicht ausgestellt sind, sondern in den Kellern der Museen schlummern. im Stück nun erwacht eine afrikanische Statue im Depot zum Leben, erzählt Michael Pietsch: „Das ist Yennenga, also eine mystische burkinische Königstochter und Kriegerin, die in Burkina Faso jeder kennt. Die wieder zurück in ihre Heimat will und soll und muss. Für uns ist das symbolisch für alle Objekte, die in den Museen lagern.“

In Gestalt einer hölzernen Marionette von Michael Pietsch begibt sich die Statue der Prinzessin Yennenga auf eine Reise durch Raum und Zeit.

„Wenn so ne Statute auf einmal anfängt zu leben, nehmen wir natürlich die Perspektive dieser Statue ein. Blicken durch Augen, durch die man eigentlich gar nicht blicken kann. Und das öffnet natürlich auf einmal ganz andere Gedankenräume, als zu sagen so, ist jetzt in dem Museum in Benin die Klimaanlage gut genug? Und so weiter und so weiter. Also der Pragmatismus, der auch so viele Ideen klein hält, den kann man mit der Kunst ganz einfach überspringen. Wir kucken uns das jetzt mal durch die Augen dieser Statue an. Wie wäre jetzt so eine Statue nach Europa gekommen? Jetzt versuchen wir mal diese Reise zu spielen, zu illustrieren. Durch welche Hände ist das gegangen? Was hat so eine Statue, die in einem europäischen Museum seit 100 Jahren steht, was hat die eigentlich gesehen?“

„Vision einer Rückkehr“ ist die fünfte Arbeit von Jan-Christoph Gockel und Michael Pietsch an den Münchner Kammerspielen. Die Zusammenarbeit der beiden aber begann schon lange vorher. Vor rund 20 Jahren bereits, als sie sich als Statisten im Theater in Kaiserslautern kennenlernten. Als die erste gemeinsame Inszenierung entstand, waren beide noch Teenager.

„Das war tatsächlich noch bei meinen Eltern zuhause im Wohnzimmer. Die Produktionen von damals hatten schon relativ viel von heute. Also wir fingen klein an. Am Ende musste immer die Couch weggeschoben werden, weil ein 6m Theater dastand, mit 70 Puppen und 30 Bühnenbildern. Und es wurde immer größer und wuchs und hatte so das ganze Haus eingenommen nach und nach.“

Doch nicht nur rein räumlich sprengten die Arbeiten von Pietsch und Gockel schon bald den Rahmen herkömmlichen Puppentheaters. „Geschlossenes Marionettentheater“ wie Jan-Christoph Gockel es nennt, in dem die Puppenspieler im Verborgenen die Fäden ziehen, interessiert die beiden nicht. Im Gegenteil, Michael Pietsch, der Puppen schnitzt seit er 10 ist, als Marionettenbauer und -spieler jedoch Autodidakt ist, dafür aber eine Schauspielschule besucht hat, ist meistens auf der Bühne sichtbar. Er spielt die Puppen nicht nur, sondern spielt mit ihnen. So entsteht eine Mischung aus Schauspieler- und Figurentheater, in denen auch andere Darsteller als Puppenspieler agieren, oder aber zu Spielpartnern der Puppen werden.

„Es hatte schon viel mit Geisterbeschwörung zu tun. Also so Puppen, Marionetten insbesondere, changieren ja immer so auf dem schmalen Grat zwischen tot und lebendig und wenn man eine Figur auf die Erde legt ist das ein authentischer Moment, in dem eine Figur stirbt. Und genau so ist eben dieses Erwecken der Figur und das Wiederbeleben der Geister.“

Immer wieder sind es die Geister des Gestern, die im Theater von peaches&rooster reanimiert werden. Aus ferner Vergangenheit wie im Fall der afrikanischen Königstochter Yennenga oder aus der jüngeren Geschichte etwa im Stück „Eine Jugend in Deutschland“, in dem der Räterevolutionär und Schriftsteller Ernst Toller als Pietsch-Marionette mit ausdrucksstarkem Schnitzschädel seine Wiederauferstehung erlebt.

„Wir lagern in den sechs Schränken jetzt einen Großteil der Puppen. Hier hängt alles wild durcheinander: Das ist Danton,..  Robespierre. Das hier sind die Figuren aus unserem ersten gemeinsamen Stück, aus ‚Baal‘.“ Pietschs Puppenwerkstatt und -fundus an den Kammerspielen gleicht ein wenig dem Museumsdepot aus dem neuen Stück „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“. Etwa 300 Puppen aus früheren Inszenierungen in Graz, Mainz und anderen Theatern schlummern in Schränken. Bei den meisten handelt es sich um holzgeschnitzte Marionetten, aber es gibt auch Figuren, die von Hand geführt werden, ohne Fäden. Auch eine Franz Josef Strauß-Marionette baumelt im Schrank. Sie hatte ihren Auftritt in „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“, eine Stückentwicklung über die Machenschaften des einstigen bayerischen Ministerpräsidenten in Togo.

„Ein derartig freundschaftlich geprägtes Verhältnis zwischen einem europäischen Land, einem afrikanischen Lande ist Anfang der 80er-Jahre nicht selbstverständlich.“ Strauß schwadronierte von Völkerfreundschaften. Eine Ungeheuerlichkeit angesichts der Geschichte kolonialer Ausbeutung, die er auf seine eigene Weise fortschrieb. Als Herr eines internationalen Spezl-Wirtschaftsimperiums fädelte er profitable Deals für bayerische Unternehmen in Togo ein. Im Stück von peaches&rooster aber, zappelt der Strippenzieher Strauß selbst an Fäden, während sein Marionettenmund zu Archivtonzuspielungen auf- und zuklappt. Dabei ist die Politikerpuppe mit dem originalgetreuen geschnitzten bullig-bayrischen „Gschwöllschädel“, alles andere als ein harmloser Hampelmann.

„Um so ne Gefährlichkeit zu haben, kann er die Augen nach rechts und links drehen und schließen. Also hat der sowas wie ein lauerndes Krokodil, das jederzeit zuschnappen kann.“

Franz Josef Strauß, wieder so ein Geist aus der Vergangenheit, der hier im Theater beschworen wird. Und dessen gemeingefährliche Ausstrahlung als Marionette beweist, dass der Zauber von Puppentheater nicht immer Verzauberung bedeuten muss, sondern auch schauriger Spuk sein kann.

So wie auch im folgenden Fall, an den sich Jan-Christoph Gockel erinnert:

„Wir haben mal Struwwelpeter nach dem Kinderbuch inszeniert und den Daumenlutscher, dem der Daumen abgehakt wird. Und Michael hatte dann ne Holzpuppe gebaut mit nem Holzdaumen, der abgesägt werden konnte. Es sind bei der Szene regelmäßig Leute aus dem Theater gegangen. Die haben das Theater verlassen, weil das so echt war. Es ist dann für mich, so ein Urmoment des Arbeitens mit Puppen.“

Derlei Momente tiefer Verstörung stehen in den Inszenierungen von peaches&rooster immer wieder solche ebenso intensiver Ermutigung gegenüber. „Wer immer hofft, stirbt singend“, eine Revue nach Texten von Alexander Kluge zum Beispiel feiert den Zirkus als Ort, an dem versucht wird, die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen. Wo Artisten der Schwerkraft trotzend von Trapez zu Trapez fliegen oder Dompteure unbezähmbare Raubtiere bändigen. Natürlich eine Metapher für das Theater, das sich seinerseits an der Kunst des Unmöglichen versucht, indem es einer zunehmend verstörenden Realität die Kraft utopischen Denkens entgegensetzt. Jan-Christoph Gockel spricht von „politischer Poesie“. In einer Welt, in der sich immer mehr Populisten und Autokraten die Wirklichkeit zurechtlügen, stellen peaches&rooster dem ihre eigene Fiktion gegenüber. Vorschläge für eine andere, bessere Welt.

„I do not know how I got here. I hope to slip out of the gloved hands of the museum guards when they shift me.”

Dieser Ansatz steckt auch im neuen Stück. „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“. Der Blick auf das Thema Restitution aus der Perspektive einer geraubten Statue ist auch Anregung zu einem anderen Umgang mit geraubtem Kulturgut. Bei peaches&rooster geht diese Auseinandersetzung zudem mit einer anderen Theaterpraxis einher. Eben eine des kollektiven Schaffens auf Augenhöhe mit allen Beteiligten. Schon „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ war nicht nur eine Art Exorzismus, um den Ungeist des Kolonialismus auszutreiben, sondern ebenso die Beschwörung eines guten Geistes des interkulturellen Miteinanders. Das ist nun erneut der Fall. Bei den Afrika-Projekten sei das besonders wichtig betont, Kammerspiele-Dramaturgin Olivia Ebert:

„Für mich ist eigentlich die Zusammenarbeit in diesem Fall oder bei diesen beiden Arbeiten auch schon politisch. Also das ist gar nicht selbstverständlich, finde ich, diese intensive Form der Kollaboration, wo alle Beteiligten der Produktion eben aus den unterschiedlichsten Hintergründen gemeinsam eine Form finden.“

Denn früher hatten solche Projekte Züge von Kulturimperialismus. Deutsche Theaterschaffende glaubten „Kunst-Entwicklungshilfe“ leisten zu müssen. Jan-Christoph Gockel dagegen hat sich für die Regie zu „Vision einer Rückkehr“ mit dem Choreografen Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso zusammengetan. Es gehe darum, voneinander zu lernen. Für Michal Pietsch bedeutet das ganz konkret, dass er mit der Marionette der afrikanischen Prinzessin Yennenga nun tatsächlich das einüben muss, was sonst nur eine abgedroschene Redensart ist, nämlich die Puppen tanzen zu lassen.

„Es ist ne Marionette, die an 6m-langen Fäden hängt und dadurch ein völliges Eigeneleben hat. Dadurch gibt’s sehr choreographische Elemente, ne Figur, die wenig Text hat, aber viel Bewegung hat. Also sehr physisch. Und das ist ne relativ neue, große Herausforderung über ne Distanz von 6m das zu steuern.“

Die noch größere Herausforderung allerdings liegt bei dieser Aufführung darin, dass sie den Gedanken der kollektiven internationalen Zusammenarbeit auf die Spitze treibt. Um den Denkraum dieses poetisch-politischen Theaters möglichst weit zu fassen, wird in der Hauptstadt Togos, Lomé, und in München parallel gespielt. Was in Lomé auf der Bühne passiert, wird nach München übertragen und umgekehrt.

„Wir machen ein Stück, da kann man in die Kammerspiele gehen und geht mit Menschen 5000 km entfernt zusammen ins Theater. Viele Leute werden niemals an diesen anderen Ort reisen. Aus München nach Lomé und schon gar nicht aus Lomé nach München. Aber vielleicht ist doch so ein Moment von Gemeinsamkeit möglich. Das interessiert mich auch am internationalen Arbeiten.“

Es ist ein Moment, in dem eine Utopie für die Dauer einer Theateraufführung Realität werden kann. Immer wieder bekommt das Publikum in Vorstellungen von peaches&rooster genau das, eine Vorstellung von einer anderen, besseren Welt. In ihren Theatererzählungen, die, wie Alexander Kluge sagen würde, „ein Zuhause sein können“. Und nicht selten ist das Vorstellbare, Denkbare auch machbar.