Uraufführung

DER STURM / DAS DÄMMERN DER WELT

Mit: Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Michael Pietsch, Thomas Schmauser, Anton Bermann, Maria Moling (Live-Musik), Lilli Pongratz (Live-Kamera)| Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne: Julia Kurzweg | Kostüme: Janina Brinkmann | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Anton Berman, Maria Moling | Video: Lilli Pongratz | Dramaturgie: Tobias Schuster, Claus Philipp | Regieassistenz: Marion Hélène Weber | Bühnenbildassistenz: Yue Ying | Kostümassistenz: Melina Poppe | Fotos: Armin Smailovic | Premiere: 15.12.2023



Gestürzt von Widersachern um seinen eigenen Bruder wird Prospero, der ehemalige Herzog von Mailand, auf eine Insel vertrieben. Dort trifft er auf Caliban und Ariel, denen er ihr Land entreißt und sie zu seinen Untertanen macht. Er sinnt auf Rache und entfesselt einen verheerenden Sturm, um seine Feinde am Ufer der Insel stranden zu lassen.

Hausregisseur Jan-Christoph Gockel verschneidet Shakespeares Stück mit Werner Herzogs neuem Roman „Das Dämmern der Welt“. Darin erzählt Herzog die Geschichte des Soldaten Hiroo Onoda, der 29 Jahre lang auf einer Insel den Zweiten Weltkrieg weiterkämpft. Alle Nachrichten darüber, dass der Krieg zu Ende ist, hält er für Fälschungen. Doch eines Tages muss er – so wie Prospero seinen Zaubermantel ablegt – zurück in eine Welt, die ohne ihn weitergelebt hat. Magie ist hier der nackte Kampf ums Überleben und um die Aufrechterhaltung eines Auftrags, dessen Gültigkeit abgelaufen ist.

„Die Wahrheit ist, dass der Krieg niemals aufgehört hat.“

Jan-Christoph Gockel zeigt Shakespeares zyklische Geschichte um Macht, Unterwerfung und Widerstand und Herzogs literarisches Denkmal eines sinnlosen Krieges in einer spektakulären Ästhetik mit Puppen von Michael Pietsch.

 

 

„Die Höll‘ ist leer…“: Nach dem Sturm ist vor dem Sturm

Warum trägt Shakespeares letztes Drama den Titel „The Tempest“ („Der Sturm“)? Das Schlimmste, die Katastrophe hat sich doch schon nach der ersten Szene des ersten Akts ereignet, in der ein Schiff kentert? In diesem Zusammenhang wird gerne der Ausruf zitiert: „Die Höll‘ ist leer / Und alle Teufel hier!“ Schnell wird klar: In Shakespeares „Sturm“ sind alle Protagonist*innen Gestrandete und gleichzeitig sprachmächtige Analytiker ihrer desaströsen Lage, selbst wenn etwa der Ureinwohner Caliban von seinem Herrn Prospero „die Sprache nur gelernt“ hat, „damit ich fluchen kann“.

Aus heutiger Sicht nehmen sich Epochen, in denen „Der Sturm“ als duftiges Zaubermärchen gelesen und gespielt wurde, irritierend aus. „Der wahre Sturm ist drohend und roh, lyrisch und grotesk, er ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt“, schrieb, schon 1961, in den Zeiten des Kalten Kriegs, der polnische Kritiker und Dramaturg Jan Kott. Befohlen (und inszeniert) hat diesen Sturm der so oft zum schrulligen Magier verklärte Prospero selbst. Auf seiner Insel führt er ein nur notdürftig mit Vernunft und Fürsorge verbrämtes, zynisches Regiment über den als „Monster“ abgekanzelten Caliban und den zu Zerstörungszwecken missbrauchten Luftgeist Ariel. Für ein recht abgeschmacktes Generalversöhnungs- und Machtmanöver missbraucht Prospero alle(s) und jede(n), inklusive seiner Tochter Miranda, er überschreitet Grenzen und Befugnisse wie ein tyrannischer Kapitän. Der Sturm, den Prospero loslässt, steht, jeden Theaterabend wieder, in einer langen Tradition von Eroberungen, Überwältigungen und Aneignungsmanövern.

Jan-Christoph Gockel stellt das Drama in größere, globale Kontexte. „Das Dämmern der Welt“ von Werner Herzog, dem „radikalen Träumer“ des Neuen Deutschen Kinos, ist der zweite Ausgangspunkt von Gockels Inszenierung. Der auf einer realen Begebenheit beruhende Stoff verhält sich insofern zum „Sturm“ wie eine Variation verwandter Motive, freilich aus einer anderen Zeit, einer anderen Sphäre: Auch hier übt sich ein in Kampf und Konflikt geeichter Inselbewohner mit Blick auf (kriegerische) Verwüstungen in Versuchen der Weltbetrachtung: Der japanische Soldat Hiroo Onoda war auf der Pazifikinsel Lubang stationiert, bekam dort von der Kapitulation Japans am Ende des 2. Weltkriegs nichts mit und kämpfte noch unglaubliche 29 Jahre seinen Krieg weiter, als wäre er gefangen in einer Zeitschleife.

aus: Digitales Programmheft „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ von Tobias Schuster und Claus Philipp