Baal

Mit Thomas Birklein, Sebastian Brandes, Jutta Garbe, Eva-Maria Pichler, Michael Pietsch | Regie: Jan-Christoph Gockel | Bühne und Kostüme: Julia Kurzweg | Puppenbau: Michael Pietsch | Musik: Matthias Grübel | Dramaturgie: Johanna Wall | Fotos: Andreas Etter | Premiere: 21.09.2010 |



„Ob es Gott gibt oder keinen Gott / Kann solang es Baal gibt, Baal gleich sein.“
Bertolt Brecht

Baal ist jung, genial und radikal in seinem Streben nach bedingungsloser Selbstverwirklichung. Von der Gesellschaft wegen seiner einzigartigen künstlerischen Fähigkeit zunächst bewundert, nimmt seine Karriere ein abruptes Ende, als er sich weigert, gemäß der in ihn gesetzten Erwartungen zu funktionieren. Baal lässt sich nicht kaufen. Baal kennt keinen Stillstand. Baal ist rücksichtslos – gegen sich selbst genauso wie gegen alle anderen. Bei diesem Trip auf der Suche nach absoluter Wahrhaftigkeit bleiben alle auf der Strecke, die Mutter, der Freund, die Liebe und möglicherweise Baal selbst.

Soweit der Plot. Bei uns ist Baal tatsächlich Gott. Er baut sich seine eigene Welt. Er schnitzt: Schon während das Publikum den Saal betritt, arbeitet er wie besessen an seinen Puppen – die er nach dem Abbild seiner selbst und dem seiner Mitmenschen schafft. Baals Fehden mit der Welt der Kritiker, der Bewunderer und empörten Bürger werden als Puppentheater vorgeführt. Die Episoden, in denen er erst die Frau seines Mäzens und später Johanna, die Freundin seines getreuen Freundes und Bewunderers Ekart, verführt, während der seinem Puppen-Ich die Augen zuhält – sind nur Puppenspiel. Baals Sehnsucht nach Frühling, Sommer und Liebe ist echt, aber leben kann er sie nicht. Erst, als Baal Sophie kennen lernt, verlässt er seine Puppenwelt.

Nach innen ist Baal tatsächlich Gott, er schafft sich seine eigene Welt. Nach außen aber ist er einsam und isoliert, wie es wohl auch vielen anderen ergehen mag, die sich in der virtuellen Welt, geschützt durch die vermeintliche Anonymität des Internets, eine neue Identität zurechtbasteln.

"Jan-Christoph Gockel gelingt es, das rare Kunststück einer grundlegenden Neudeutung zu unterziehen, ohne dem Stück Gewalt anzutun, ja, ihm geradezu ein wenig von jener Weisheit zu einzuhauchen, die Brecht in der Rückschau in seinem Frühwerk vermisste."
Nachtkritik.de, Andreas Schnell, 21.09.2010

"Es ist schon ein ziemlich kluger Kniff, diese Sache mit den Puppen.Es ist neben diesem genial simplen Bühnenbild Julia Kurzwegs nicht zuletzt Michael Pietsch zu verdanken, dass der Abend fesselt, bewegt, zusammenhält, und zwar nicht nur, weil er selbst die Puppen gebaut hat: In einer regelrechten Tour de force lässt er den rasenden Baal als autistischen, aber durchaus anrührenden Psychopathen zugrunde gehen. "
Nachtkritik.de, Andreas Schnell, 21.09.2010

"Brecht stammt zwar aus Augsburg, die Puppenkiste hat er aber nicht erfunden. Er hätte jedoch seine Freude an dieser frechen Puppen-Regie mit Distanz und Nähe gehabt, an dem mal huschigen, oft komischen Baal von Pietsch."
Nordwestzeitung, Reinhard Tschapke, 23.09.2010

"Mit seinem Stück war Brecht bis zuletzt unzufrieden. Sogar eine Warnung sprach er einmal aus. Dem Text, so grämte er sich, mangele es an Weisheit. Vielleicht mangelte es einfach nur an Marionetten."
Kreiszeitung, Johannes Bruggaler, 23.09.2010

Hintergrund

„Baal und die Puppen“, Johanna Wall, Dramaturgin

Auch wenn „Baal“ häufig autobiographisch gedeutet wird, ist es eher wahrscheinlich, dass Brecht sich nicht scheute, in „Baal“ alles hineinzuschreiben, was sich in der Gedankenwelt eines jungen Mannes aus der etwas biederen Schwabenmetropole so an Gewalt-, Sex- und Allmachtsfantasien wiederfindet. Und diese Fantasiewelt hat frappierende Ähnlichkeit mit jenen virtuellen Welten, in die sich heutige Jugendliche zurück- und damit dem elterlichen und schulischen Zugriff entziehen.

„Baal“ in seiner kraftvollen Poesie ein Werk von großer Schönheit, doch in seinem Helden spiegeln sich gleichzeitig alle eskapistischen Wünsche jener (junger) Menschen, von denen gefordert wird, dass sie im Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Regeln zu funktionieren und den an sie gestellten Anforderungen zu genügen haben. Baal wehrt sich. Baal zieht sich „in seine Zehen zurück“, wie er es ausdrückt, entzieht sich einer Gesellschaft, die versucht, sich seiner zu bemächtigen. Baal ist sein eigener Gott. (…)

Die Möglichkeit, sich sein eigenes Wunsch-Ich in einer – auch anderen zugänglichen – virtuellen Parallelwelt selbst zu schaffen und die Probleme, die aus einem Zusammenstoß dieser Welt mit dem „echten Leben“ resultieren, ist ein Phänomen, das in jüngster Zeit vielfach diskutiert wurde. „In der Puppenwelt ist für Baal alles möglich, was er in seinem realen Leben nicht kann: Er legt Frauen flach, bringt die Gesellschaft in Aufruhr, weil die Menschen ihn gleichzeitig anhimmeln und verachten. Unser Menschen-Baal, der mit seinem Kumpel Eckart den Puppenkosmos steuert, ist sehr schüchtern, soziophob und steckt all seine Energie in die Verwirklichung innerhalb seiner Puppenwelt. Jemand stürzt sich in seine Fantasiewelt und kollidiert immer wieder mit der Realität.“ (Jan-Christoph Gockel)

Die Unvereinbarkeit zwischen kompromissloser Verteidigung des selbstbestimmten Ichs und der Anpassung an eine Gesellschaft, die auf komplette Normierung individueller Lebensentwürfe abzielt, ist ein Thema, das an Aktualität eher gewonnen hat. Brecht bringt dieses Dilemma auf den Punkt, wenn er von Baal sagt: „Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.“