Das Weiß im Auge des Schauspielers

VERÖFFENTLICHT AM: Oktober 23, 2018

 

Ich habe mir immer ein Theater erträumt, in dem die Schauspieler*innen Dinge erforschen, anfassen, sich aussetzen. Eigentlich Autoren und Spieler sind, Journalisten und Redner. Das lässt sich im Probenraum verwirklichen, am besten aber natürlich unterwegs, dort wo was los ist, was man beschreiben will, dort wo es brennt in der Welt. Das kann manchmal das Nachbarhaus sein, ein Stadtviertel, in das man sonst selten einen Fuß setzt oder eben ein  anderes Land. Und da mit den Schauspieler*innen zusammen hingehen oder hinreisen, nicht nur mit den „künstlerischen Entscheidungsträgern“ recherchieren, sondern mit der ganzen Truppe.

 „Die (Schauspieler) gehen von der Probebühne raus in die Welt. Die sprechen mit den Aktivisten. Die sehen den Staub. Die kriegen den Durchfall. Die werden zu Zeitzeugen. Die geraten in eine Revolution. Die sehen die Leute, die die Revolution feiern. Wenn Du es in der Zeitung liest, sieht es einfach aus wie Zeter und Mordio und Du siehst nicht das Schöne, das Positive daran, an der Veränderung. Das kann man hier nicht sehen. Du erhältst es zu Hause präsentiert durch tausend Filter. Erst wenn Du vor Ort bist, siehst Du die ganze Ambivalenz. (…) Die Schauspieler bringen die Erfahrung aus der Welt zurück ins Theater. Und dort sieht der Zuschauer wiederum das Weiß im Auge des Schauspielers.“
Aus: Das Weiß im Auge des Gegenübers. Für ein Theater der Reise. Jan-Christoph Gockel, Laurenz Leky, René Michaelsen

 

Flugtickets statt Glasfaserkabel

DIE REVOLUTION FRISST IHRE KINDER! macht die Schauspieler*innen zu Fragestellern. Ich bin dem Schauspielhaus Graz dankbar, dass sie es möglich machen, dass Schauspieler*innen aus dem Ensemble mitkommen können, aus dem Repertoirebetrieb herausgerissen werden und für fünf Wochen weg sind. In Burkina Faso.

Kay Voges und seine Crew haben ja gerade ein Glasfaserkabel von Berlin nach Dortmund „verlegt“ und an zwei Orten gleichzeitig gespielt. Ne coole Idee, aber müsste man das Glasfaserkabel oder vielmehr die Kommunikation damit nicht weiter spannen? Immerhin macht Berlin – Dortmund oder Berlin – Ouagadougou von der Zeitdauer der Übertragung kaum einen Unterschied. Vielleicht ist das ja der nächste Schritt!?

Denn wenn jetzt alle Schauspielensembles in Flugzeuge steigen würden, wäre das CO2-mäßig natürlich eine ziemliche Katastrophe und es gibt auch definitiv Dinge, die man nicht gesehen oder erlebt haben muss, um sie zu erzählen. Karl May war da ja toll. Seine Romane über den Orient und Amerika: reine Fantasie, ausgedacht, Projektionen. Als er in späteren Jahren dann mal hingefahren ist, bekam er einen Herzanfall, weil die Realität gar nicht so war, wie von ihm beschrieben. Dieser Widerspruch ist doch interessant: also ausdenken UND hinfahren und aus diesem Zwischenraum dann erzählen.

 

Globaler Realismus

„Ich wollte dorthin gehen, wo ich mir die Dinge anschauen, sie face-to-face beschreiben und bekämpfen konnte. Ich begann also, nach Afrika zu reisen, nach Südamerika, nach Russland und an dem zu arbeiten, was ich heute den „globalen Realismus“ nenne: an der Beschreibung dieses weltumspannenden Innenraums des Kapitals, seiner Alpträume und Hoffnungen, seiner Unter- und Gegenwelten. (…) Realistisch zu arbeiten heisst ja schlicht und einfach, das Reale aus dem Schatten der Dokumente, der sogenannten „Aktualität“ ins Licht der Wahrheit und der Präsenz zu zerren. (…) Ich glaube, der Neue Realismus ist ein Versuch, die ungeheure Schere zwischen dem, was tatsächlich geschieht und dem, wie wir darüber sprechen, zu schliessen.“
Milo Rau

So sind wir unterwegs und schreiben unseren Theaterabend während des Reisens. Julia Gräfner, Raphael Muff, Komi Togbonou und Laurenz Leky improvisieren, was sie sehen, berichten, was sie erfragt haben. Eike Zuleegs Kamera läuft. Jennifer Weiß, Dramaturgin, sammelt weniger Texte als Kontakte: Sie hat Aktivist*innen vom Balai Citoyen interviewt und danach beim Militär die Sperrung einer Straße beantragt (für eine Szene mit brennender Straßensperre). Julia Kurzweg, Bühnen- und Kostümbildnerin, kauft Bühnenbildteile zusammen, entwirf die Kostüme mit burkinischen Schneidern und Michael Pietsch kommt grade aus einem Schnitzatelier zurück. Gerhardt Haag interviewt Thomas Sankaras Familie und unser Tonmann Sanfo Halassane hat uns gestern zu einem der größten Helden der burkinischen Geschichte geführt, dem Weggefährten Thomas Sankaras, der nach dessen Tod ins Exil geflohen war: Boukari Kaboré, genannt „le lion“.

– Jan-Christoph Gockel