LJOD | Interview

VERÖFFENTLICHT AM: April 18, 2019

Aus dem Interview „LJOD – Binge watching im Theater“ für die Theaterzeitung des Staatstheaters Mainz in Zusammenarbeit mit der Allgemeinen Zeitung | 29. März 2019

Die Produktionsdramaturgin Rebecca Reuter sprach mit Jan-Christoph Gockel.

 

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Reuter: Sorokin ist in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt worden, aber vorrangig doch in Russland und Deutschland bekannt. Woran liegt das?

Gockel: Die Romane berühren deutsche Geschichte an vielen Punkten und diese Gemeinschaft, bestehend aus blonden, blauäugigen Menschen, erinnert an den Ariertopos, wie wir ihn aus dem Nationalsozialismus kennen. Die Ljod-Trilogie spielt mit Erlöserfantasien, die sich ganz heutig als Sehnsucht nach einer Elite lesen lassen. Beim Lesen beschleicht einen immer wieder die Hoffnung, selber dazu zu gehören. Im letzten Band 23 000 wird die Thematik von der anderen Seite beleuchtet: nämlich von Seiten der Opfer, die versuchen herauszubekommen, was das für eine Gemeinschaft ist, die Menschen mit Eishämmern bearbeitet. Letztlich kommen sie dieser riesigen Verschwörung – Verschwörungstheorien wabern durch die Bücher – auf die Schliche. Sorokin beschreibt zwei Welten: das qualvolle, widersprüchliche Leben als „Fleischmaschine“ auf der einen, die erlöste, simplifizierte Weltsicht der Lichtmenschen auf der anderen Seite.

Reuter: Die Erlösung gibt es aber nur für eine Elite.

Gockel: Genau, es gibt weltweit nur 23 000 Menschen, die in einem brutalen Ritual erweckt werden müssen. Die Erlösung ist bei Sorokin nur mit großer Gewalt, Schmerz und Rücksichtslosigkeit gegenüber allen anderen Menschen möglich. Das finde ich mit dem Blick auf unsere Gegenwart interessant: der Wunsch nach einfachen Erklärungsmodellen, die Orientierung in einer komplexen Welt anbieten. Zusammenhänge werden simplifiziert, und veraltete Kategorien wie „Volk“ und der im 19. Jahrhundert erfundene Rasse-Begriff haben wieder Hochkonjunktur.

Reuter: Die FAZ schrieb 2010: „Vladimir Sorokin ist nicht ein Schriftsteller, sondern viele. Man merkt seinem Schreibstil die strenge klassische Schule an und spürt, dass er den russischen Romanfundus des neunzehnten Jahrhunderts durchgekaut und verdaut hat. Allerdings hat er ihn um die genaue Beobachtung der Gesellschaft angereichert und in sexuellen Dingen kein Blatt vor den Mund genommen, genauso wenig bei der Beschreibung von Gewalt …“

Gockel: Auch hier ist der magische Realismus ein Genre: Bei Meister und Margarita (Anm. Gockel inszenierte … Bulkakows … im Staatstheater Mainz) ist es der Teufel, der in die Realität einbricht. Bei Sorokin ist es das Ljod, das Eis, das buchstäblich in Form eines Meteoriten in diese Welt einbricht. Letztendlich sind die drei Romane aber ein Genre-Mix, in dem Science Fiction und Mystery-Elemente auftauchen, aber auch der russische Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts, Trash-Erotik-Groschenheftchen und Action-Comics zitiert werden. Dafür suchen wir theatrale Entsprechungen: Mit Seda Demiriz ist eine Live-Zeichnerin dabei. Und es wird große Hörspielpassagen geben – die Matthias Grübel gestaltet.

Ab 26.04.2019 im Staatstheater Mainz.